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Coaching vs. Psychotherapie

Coaching vs. Psychotherapie

Wo liegt die Grenze?

Personal Trainer sind für ihre Klienten oftmals weit mehr als „nur“ Trainer. Hier können schnell Grenzen verschwimmen; der Trainer wird zum Gesprächstherapeuten. Yannik Lengenberg zeigt auf, wann du Klienten besser an einen Experten im Bereich Psychologie verweisen solltest.

Bei regelmäßigem Kontakt mit Kunden nehmen Trainer und Coaches schnell die Rolle eines medizinischen Ratgebers oder psychologischen Betreuers ein. Doch Vorsicht! Der Grat zwischen Coach und Psychotherapeut ist schmal und darf keinesfalls überschritten werden. Wer so eng mit seinen Kunden zusammenarbeitet wie ein Personal Trainer, der wird gelegentlich auch mit schwierigen persönlichen Schicksalen oder sogar psychischen Erkrankungen konfrontiert. Wer seinen Beruf ernst nimmt und sich zusätzlich im Bereich Coaching ausbilden lässt, dem fällt es leichter, auf betroffene Klienten einzugehen und zwischen der Rolle des Trainers oder Coaches und dem Arbeitsbereich eines Psychotherapeuten klar zu differenzieren. Hierzu gehört auch, sich seiner rechtlichen Lage bewusst zu werden und zu wissen, wo die Grenzen einer Coachingintervention liegen.

WO LIEGEN DIE UNTERSCHIEDE?

Der primäre Unterschied zwischen Coaching und Psychotherapie liegt nicht etwa in den angewandten Methoden oder Techniken; diese können sehr ähnlich sein und sich meist nur im Ausmaß bzw. in der Ausgangslage des Klienten unterscheiden. Coaching allerdings richtet sich an „gesunde“, Psychotherapie eher an „kranke“ Menschen. Rechtlich gesehen bedarf es in Deutschland der „Zulassung zur Ausübung der Heilkunde“, um eine Diagnose zu stellen, eine Therapie durchzuführen und ein psychologisches Leiden zu heilen. Handelt es sich zum Beispiel um psychische Erkrankungen, um Medikamenten-, Alkohol- oder Drogenabhängigkeit oder um die umfassende Betrachtung der Lebensgeschichte eines Menschen, finden wir uns im Wirkungsfeld eines Arztes, Psychologen oder Psychotherapeuten wieder.
Das bedeutet, dass du als Trainer bzw. Coach rechtlich illegal handelst und dich sogar strafbar machst, wenn du eine Diagnose äußerst wie zum Beispiel: „Das hört sich alles nach einer bipolaren Störung an.“ Das gilt auch, wenn du nach einer Verdachtsdiagnose gefragt wurdest. Daher solltest du Aussagen dieser Art tunlichst vermeiden.

WAS IST ERLAUBT?

Es gibt die unterschiedlichsten Szenarien und Lebenssituationen, in denen Personal Trainer von Kunden nach einem Rat oder nach ihrer Meinung gefragt werden. Oftmals ist allein der gedankliche Austausch mit einer unabhängigen Person, wie z. B. einem Personal Trainer, sehr hilfreich. Um dir zu verdeutlichen, was du ohne Probleme tun kannst, nachfolgend drei beispielhafte Szenarien:

Beispiel 1: Bei einer Kundin stagniert eine Phase der Betreuung. Die Kundin sagt dir, dass sie gerade persönlich sehr stark unter Stress stehe, da der Scheidungskrieg mit ihrem Ehemann ihr jegliche Kraft nehme. Hier ist es völlig angemessen, in Momenten der tiefen Niedergeschlagenheit zuzuhören, gut zuzureden und gemeinsam im Rahmen eines Personal Trainings nach Bewältigungsstrategien zu suchen, um wieder Kraft zu finden und das Programm weiter zu verfolgen.

Beispiel 2: Ein Kunde zeigt nach wiederholten Versuchen der diätischen Intervention keine Erfolge, zeigt sich kraftlos, überfordert und insgesamt sehr negativ. Alle Versuche werden immer nach kürzester Zeit abgebrochen und als immer wiederkehrendes Scheitern wahrgenommen. Hier stehen dem Kunden möglicherweise negative Glaubenssätze im Weg. Bist du ein gut geschulter Coach, kannst du ihm eine Coachingsession anbieten, bei der ihr Strategien erarbeitet, die ihm die Fähigkeit verleihen, der vereinbarten Diät besser zu folgen.

Beispiel 3: Eine Kundin äußert sich sehr selbstverurteilend. Zu manchen Trainingseinheiten erscheint sie völlig kraftlos. Sie mag sich nicht im Spiegel betrachten und hat Angst davor, mehr zu essen. Hier ist das Hinzuziehen eines psychologischen Experten erforderlich, um ein mögliches Krankheitsbild auszuschließen und ggf. eine weitere Beratung einzuleiten.

Der Grat zwischen Coach und Psychotherapeut ist schmal und darf keinesfalls überschritten werden.

FEHLENDE FÄHIGKEIT ZUM SELBSTMANAGEMENT

Ein gutes Indiz für die Notwendigkeit einer psychotherapeutischen Betreuung ist der teilweise Verlust der Fähigkeit zum Selbstmanagement. Es geht in einer solchen Therapie primär darum, dem Hilfesuchenden wieder zu einem gesunden Maß an psychischer Gesundheit zu verhelfen. Ein Coach hingegen hat zumeist die Aufgabe, eine bestimmte Lebenssituation oder die persönliche Leistungsfähigkeit zu verbessern bzw. zu optimieren. Hierbei muss er auf intakte Selbstregulationsfähigkeiten seines Kunden zurückgreifen, um wirkungsvoll arbeiten zu können. Was aber, wenn sich in einer 1-zu-1-Situation der Verdacht erhärtet, dass der Kunde größere bzw. tiefgreifendere Probleme hat, als ursprünglich erwartet?

1. Schritt: Wenn du die Vermutung hast, bei deinem Klienten könnte eine psychologische Störung vorliegen, empfiehlt sich als Erstes eine gründliche Recherche und der Austausch mit einem Experten, um den Verdacht erhärten oder ausschließen zu können. Recherchieren kannst du diesbezüglich innerhalb kürzester Zeit im „Taschenführer ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen“. Hier findest du alle notwendigen Informationen zum Abgleich von Symptomen.

2. Schritt: An zweiter Stelle steht die Einordnung des Einflusses auf die eigene Arbeit. Fehlen dem Kunden beispielsweise entscheidende selbstregulatorische Fähigkeiten, kann das eine diätische Betreuung massiv einschränken. Bei einer Essstörung kann es z. B. vorkommen, dass sich der Kunde nicht von seinem zwanghaften Verhalten des Erbrechens oder des Nahrungsentzugs lösen kann – dies aber nicht mitteilt. Ein verzerrtes Selbstbild und tiefe Angstzustände können dazu führen, dass der Kunde nicht in der Lage ist, sich an die Vereinbarung zu halten, z. B. etwa 2 000 kcal pro Tag aufzunehmen und dies zu dokumentieren. Eine Depression geht unter anderem auch mit starken biochemischen Veränderungen unseres Hormonhaushalts einher, sodass ein intensives Training oder Aufgaben, die der Kunde zu Hause erledigen soll, das Energieniveau des Betroffenen weit überschreitet. Generell kann die Impulskontrolle stark herabgesetzt sein, wie z. B. sich mit Süßem zu belohnen, sich völlig zu verausgaben, sich durch Drogen zu betäuben usw. Hier fehlt die Fähigkeit zur Selbstregulation – und damit auch die Fähigkeit, erfolgreich an selbst gesteckten Zielen zu arbeiten.

3. Schritt: Falls sich der Verdacht einer ernsthaften Erkrankung erhärtet, solltest du beim Gespräch mit dem Kunden achtsam vorgehen. Es empfiehlt sich, passende Formulierungen zu finden – Begriffe wie „Arzt“, „Psychologe“ oder „Therap e u t “ k ö n n e n Scham- und Angstreaktionen beim Kunden hervorrufen und sollten daher nicht gleich zu Beginn fallen. Hier zwei Vorschläge: „Mir sind im Rahmen unserer Zusammenarbeit über die letzten Stunden ein paar Dinge aufgefallen, bei denen ich denke, dass das Hinzuziehen eines Experten hilfreich wäre. Darf ich Sie/dich bitten, diesen zurate zu ziehen?“ Oder: „Damit wir in Zukunft noch besser zusammenarbeiten können, wäre es meiner Meinung nach sinnvoll, ein paar Dinge durch einen Experten abklären zu lassen. Würden Sie/Würdest du diesen einmal kontaktieren?“

4. Schritt: Sollte der Kunde auf eine weitere Zusammenarbeit mit Adressierung eines Problems außerhalb des Kompetenzbereichs des Trainers und Coaches bestehen, ist diese abzulehnen. Auf gar keinen Fall und auch nicht auf Nachfrage des Kunden hast du als Trainer die Berechtigung, eine „psychische Erkrankung“ zu therapieren.

RÜCKSPRACHE MIT THERAPEUTEN

Ist der Kunde hingegen schon bei einem Therapeuten in Behandlung, kommuniziert dies auch offen und wünscht sich aber darüber hinaus noch eine weitere gesundheitliche, fitnesstechnische oder diätische Betreuung durch dich als Coach bzw. Trainer, ist dies in kurzer Absprache mit dem behandelnden Therapeuten meist machbar. Beachte jedoch, dass hier die ärztliche Schweigepflicht gilt.

NETZWERK AUFBAUEN

Personal Trainer ist ein facettenreicher Beruf, der eines breiten Sets an Skills bedarf. Es liegt in unserer Verantwortung, dieses so gut wie möglich zu überblicken, um innerhalb unseres Kompetenzbereichs so gut wie möglich wirken zu können. Um zu gewährleisten, dass du deinem Kunden schnell und kompetent weiterhelfen kannst, empfiehlt es sich, ein gutes Netzwerk mit Psychologen, Psychotherapeuten und Ärzten aufzubauen. Einen Psychotherapeuten und einen Facharzt für Psychiatrie sehe ich für das berufliche Set-up eines Personal Trainers und Coaches als unentbehrlich. Hier gibt es natürlich auch unterschiedliche Schwerpunkte. Meiner Erfahrung nach stehen hier die Themen „Essstörungen“, „Angststörungen“, „Depression“ und „Suchtmittelmissbrauch“ ganz oben auf der Liste. Solltest du selbst keine professionelle Coachingausbildung absolviert haben, gehört in dein Netzwerk definitiv ein Coach, der Kunden in schwierigen persönlichen Lebenslagen begleiten kann. Eine Scheidung, der Verlust eines nahestehenden Menschen oder eine berufliche und/oder persönliche Krise kommt immer wieder vor. Die Arbeit mit einem Coach kann deinem Kunden helfen, wieder schnell Kraft zu finden und mehr Energie in das Personal Training stecken zu können, sodass deine Arbeit richtig greift. Für dich und für deine Kunden!

YANNIK LENGENBERG

Der Sportwissenschaftler und systemische Coach ist Mitinhaber von Valeo Personal Training in Bonn. Er arbeitet als Personal Trainer und Life Coach und leitet den Bereich Psychologie der Valeo Academy.
www.valeostudio.de


Foto:


Diesen und weitere Artikel findest du in der TRAINER Ausgabe 04|2020

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