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Der NEAT-Wert

Der NEAT-Wert

Abnehmen ohne Sport?

Vielen Übergewichtigen gelingt es trotz Diäten und sportlicher Aktivität nicht, ihren Körperfettanteil zu reduzieren. Tim Hänisch und Stefan Liebezeit stellen mit dem „nicht sportbezogenen Aktivitätswert “ (englisch: None-Exercise Activity Thermogenesis, kurz „NEAT“) eine weitere Einflussgröße auf das Körpergewicht vor.

Schon vor der Coronapandemie war die Zahl der Übergewichtigen und der durch Übergewicht bedingten Folgeerkrankungen besorgniserregend. Schätzungen zufolge waren im Jahr 2014 weltweit etwa 1,9 Milliarden Menschen als übergewichtig einzuordnen, davon mehr als 600 Millionen als adipös. (Yumuk, V. et al. 2015). Zudem starben seit 2010 weltweit jährlich über 3 Millionen Menschen an den Folgen von Fettleibigkeit (Adipositas) – das sind dreimal mehr als an Unterernährung.

CHRONISCHER ENERGIEÜBERSCHUSS

Eine Situation, die sich zuspitzt. Schuld daran ist u. a. ein chronischer Energieüberschuss, dem verschiedene Faktoren zugrunde liegen. Die Hauptursache ist eine zu hohe Energieaufnahme und/oder ein zu geringer Energieverbrauch. Häufig neigen wir als Trainer, Coaches und Therapeuten dazu, nur auf sportliche Aktivitäten zu setzen, um den Kalorienverbrauch unserer Klienten zu erhöhen bzw. um ihre Gesundheit zu fördern. Das ist nicht falsch, da die gesundheitlich positiven Effekte eines Kraft- und Ausdauertrainings ausreichend belegt sind – auch wenn kein Gewichtsverlust damit erzielt wird. Häufig wird dabei übersehen, dass die Auswirkungen sportlicher Aktivität auf den Gewichtsverlust ohne eine begleitende Ernährungsumstellung meist als sehr gering einzustufen sind und oft nur bei sehr hohen Trainingsumfängen möglich sind (Swift et al. 2018; Petriduo et al. 2019). Außerdem stellt sportliche Aktivität nicht unser einziges Werkzeug, mit dem wir Kalorien verbrennen und die Gesundheit unserer Klienten verbessern können, dar.

KOMPONENTEN DER ENERGIEVERBRENNUNG

Es gibt vier primäre Komponenten, die bestimmen, wie viel Energie am Ende eines Tages verbrannt wurde. Die mit Abstand größte Komponente ist der Grundumsatz, der ca. 60 Prozent des täglichen Energieumsatzes ausmacht. Die postprandiale Thermogenese wird bei der typisch westlichen Ernährung mit ca. 10 Prozent angegeben. Die restlichen ca. 30 Prozent macht die körperliche Aktivität aus. Der Grundumsatz und die postprandiale Thermogenese gelten im Gegensatz zur körperlichen Aktivität als nur bedingt modifizierbar

Körperliche Aktivität kann noch einmal in geplante sportliche Aktivität und nicht sportbezogene Aktivität unterteilt werden. Die nicht sportbezogene Aktivität wird im englischen als NEAT (Non-exercise Activity Thermogenesis) bezeichnet. Sie beinhaltet eine Veränderung der Körperhaltung und umfasst niedrig-intensive Bewegungen, die man jedoch über einen langen Zeitraum aufrechterhalten kann. Wir sprechen hier von vermeintlich einfachen alltäglichen Bewegungen wie mit dem Hund spazieren gehen, Putzen, Gartenarbeit oder Treppensteigen.

RÜCKBLICK

Ein kurzer evolutionsbiologischer Rückblick sorgt für Klarheit: In unserer 200 000 Jahre dauernden Entwicklungsgeschichte (Hominisation) lebten wir als Homo sapiens den Großteil unserer Zeit als Wildbeuter (Jäger & Sammler). Erst mit der landwirtschaftlichen Revolution vor ca. 12 000 Jahren kam es zu einem wesentlichen Einschnitt in unserem Bewegungsverhalten. Von da an folgte eine kontinuierliche Reduzierung unserer körperlichen Aktivität. Spätestens die Industrielle Revolution (ab Mitte des 18. Jahrhunderts) läutete eine „Vollbremsung“ unserer täglichen Bewegung ein (Basset, Schneider & Huntington 2004).

Da unsere biologische Evolution deutlich langsamer verläuft als unsere kulturelle, bedeutet dies, dass sich unser Organismus immer noch im Wildbeuter-Modus befindet und auf Bewegung ausgelegt ist. Somit kommt es durch den heutigen kulturell bedingten massiven Bewegungsmangel zu dramatischen gesundheitlichen Auswirkungen wie Adipositas, Diabetes oder Hypertonie.

MEHR BEWEGUNG IM ALLTAG

Auf der Suche nach Lösungen rückt NEAT seit einigen Jahren immer mehr ins Blickfeld, da ein Mehr an Bewegung im Alltag den Energieumsatz signifikant erhöht und sich positiv auf die Gesundheit auswirkt. Beim Stehen verbraucht der Körper beispielsweise dreimal so viel Energie wie beim Sitzen (15 kcal vs. 5 kcal pro Stunde) – auch wenn hier der absolute Verbrauch immer noch vermeintlich gering ist. Nichtsdestotrotz häufen sich die Aktivitäten über den Tag an. Wer regelmäßig die Treppen statt des Aufzugs nimmt, mit dem Rad statt des Autos zur Arbeit fährt oder Meetings im Gehen absolviert, kann bereits nachhaltige Veränderungen erzielen.
Apropos gehen: Je nach körperlicher Konstitution kann sich schon ein Mehr an Schritten beträchtlich auf den täglichen Energieverbrauch auswirken. James Levine, einer der berühmtesten NEAT-Forscher, konnte zeigen, dass Personen, die im Schnitt 75 kg wiegen, bei einem Gehtempo von etwa 3 km/h bereits 150 kcal pro Stunde verbrannten, bei einem zügigen Gehtempo von 5 km/h waren es sogar schon 220 kcal pro Stunde (Levine et al. 2000).

SCHRITTZAHL STEIGERN

Täglich viele Schritte zu gehen hat noch mehr Vorteile als den reinen Kalorienverbrauch, da es deutliche Zusammenhänge zwischen der täglichen Schrittanzahl und gesundheitlichen Parametern gibt. Ausgehend von 5 000 Schritten täglich, zeigte eine Studie von da an jede stufenweise Erhöhung um 2 000 Schritte in einer Reduktion von Herz-Kreislauf-Erkrankungen um 10 Prozent. Bei über 10 000 Schritten scheint das Aufwand-Nutzen-Verhältnis aber deutlich geringer zu werden (Kraus et al. 2019).
Bei jungen Männern sank die tägliche Muskelproteinsynthese um ca. 27 Prozent, wenn in einer Woche statt der 13 000 täglichen Schritte nur 1 200 Schritte gegangen wurden. Ähnliche Reduktionsraten (13–26 Prozent) wurden auch bei älteren Untersuchungsgruppen beobachtet (Shad et al. 2019 und Oikawa et al. 2019).

DIE „MAGISCHEN 10 000“

Die Herkunft der Empfehlung „10 000 Schritte pro Tag“ entspringt sehr wahrscheinlich der Übersetzung des Namens eines Pedometers (manpo-kei) aus den 1960er-Jahren, das von einer japanischen Firma verkauft wurde, aber keine evidenzbasierte „magische Schallgrenze“ darstellt. So wurden beispielsweise bei älteren Frauen keine besonderen Vorteile auf die Mortalitätsrate beobachtet , sobald sie mehr als 7 500 Schritte pro Tag machten (Lee at al. 2019). Nichtsdestotrotz sind mehr Schritte bzw. mehr alltägliche Bewegungen generell mit mehr gesundheitlichen Vorteilen assoziiert; dazu bedarf es jedoch nicht zwingend einer fixen Anzahl täglicher Schritte.

EINFACHER EINSTIEG

Trainer, Coaches und Therapeuten sind gut damit beraten, ihren Klienten mit bewegungsarmem Alltag den Mehrwert von NEAT nahezubringen. Die niedrige Intensität, gepaart mit den bisherigen Erkenntnissen bezüglich Kalorienverbrauch und Gesundheit, dürfte für viele einen einfacheren Einstieg bedeuten als beispielsweise harte HIIT-Workouts. Wearables können bei der Überprüfung helfen, auch wenn die Genauigkeit u. U. von Gerät zu Gerät abweichen kann. Es sei noch einmal erwähnt, dass die Vorgabe „10 000 Schritte pro Tag“ nicht das endgültige Ziel sein muss und unter Umständen die Klienten eher stressen könnte. Eine wöchentliche Zielvorgabe, die sich langsam, aber progressiv nach oben bis zur gewünschten Zielvorgabe steigert und eventuell sogar auch Deload-Wochen mit einplant, könnte stattdessen eine sinnvollere Alternative darstellen. Eine Zielvorgabe von beispielsweise 30 000–50 000 Schritten pro Woche dürfte für viele ein realitätsnaher Einstieg sein, obendrein schafft das Erreichen kleinerer Zwischenziele Motivation für weitere Ziele in der Zukunft.
Abschließend noch ein Gedanke: Unter dem Gesichtspunkt „Form follows function“ wird immer deutlicher, wohin die kontinuierliche Reduktion von Bewegung führt. Um das Eintreten der Prognose, dass 2030 mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung übergewichtig sind, zu verhindern, sollten wird schnellstmöglich beginnen, unseren täglichen NEAT-Anteil wieder nach oben zu korrigieren

Quellen sind auf Anfrage bei den Autoren erhältlich.


TIM HÄNISCH
Der Sportwissenschaftler ist als Trainer tätig und darüber hinaus Mitbegründer von Goodgains. Zusammen mit Jonas Küppershaus und Gino Singh klärt er per Podcast, Blog und Instagram über die Themen Sport, Ernährung und Gesundheit auf. @goodgains_de

STEFAN LIEBEZEIT
Der Diplom Sportlehrer mit dem Schwerpunkt Breiten- & Wettkampfsport gründete zusammen mit Tino Schönburg die Munich Personal Training Lounge. Er vertritt als Vizepräsident die Health Expert Alliance und ist Head Coach der Men‘s Health Camps. www.munich-pt-lounge.de


Fotos: Tim Hänisch, Stefan Liebezeit; Morakot – stock.adobe.com


Diesen sowie weitere Artikel findest du in der TRAINER Ausgabe 02|2021

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