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Die Hüfte

Die Hüfte

Ein Kompromiss der Evolution |

Die Hüfte stellt den zentralen Punkt für viele Veränderungen in unserem Körper dar, die während der Entwicklung vom Vierbeiner zum Zweibeiner stattgefunden haben. Julius Teuber stellt drei Muskeln in diesem Umfeld, die häufig Probleme machen, genauer vor.

Der menschliche Körper ist das Resultat aus Millionen von Jahren der Evolution – ein sich ständig im Umbau befindliches „Produkt“. Der Körper entwickelte sich, von äußeren Einflüssen angetrieben, ständig weiter und veränderte sein Erscheinungsbild. Durch diese bis zum heutigen Tag andauernde Co-Evolution mit der Natur haben wir uns entwickelt. Dabei sind Naturkatastrophen seit Milliarden von Jahren die natürlichen Brandbeschleuniger der Evolution. So muss sich ein Organismus schnellstmöglich an die veränderten Bedingungen anpassen; ansonsten geht er zugrunde.
Der menschliche Körper ist ein einziger Kompromiss. Man muss sich bewusst machen, dass „Umbauten“ am Körper nur mit Material durchgeführt können, das wir schon in uns tragen. Die Evolution wird sich immer für die Variationen entscheiden, die uns den größten Fortpflanzungsvorteil und damit Überlebensvorteil bringen, auch wenn diese Ausprägung andere Nachteile nach sich zieht. Damit geht die Natur immer Kompromisse ein. Und dies ist einer der Gründe, warum es Bereiche in unserem Körper gibt, die häufiger Probleme bereiten als andere.

VOM QUADRUPEDE ZUM BIPEDE

Kernstück der Entwicklung vom Vier- zum Zweibeiner war die Aufrichtung des Beckens, wobei die Hüftgelenke die Punkte darstellten, um die sich das Becken und der Oberkörper drehten. Um das Becken in dieser neuen aufrechten Position zu stabilisieren und zu verhindern, dass der Oberkörper nach vorn wegkippt, entwickelten sich stark ausgeprägte Gesäßmuskeln. Vor allem der Gluteus maximus ist äußerst kräftig, vergleicht man ihn z. B. mit dem eines Schimpansen. Der Gluteus maximus sorgt dafür, dass unser Oberkörper nicht nach vorn wegkippt.
Die aufrichtende Drehbewegung des Beckens um die Hüftgelenke brauchte Zeit. Man kann davon ausgehen, dass die Natur einen Weg finden wollte, diesen Prozess zu verkürzen. Schaut man sich das Becken an bzw. das Kreuzbein (Os sacrum), das über das Iliosakralgelenk direkt mit dem Becken verbunden ist, stellt man fest, dass die Basis des Kreuzbeins ein leichtes Gefälle nach vorn aufweist. Auf diesem Gefälle ist die Wirbelsäule errichtet. Um die Vertikalisierung des Körpers abzukürzen, hat sich wohl die starke Lordose in der LWS entwickelt, die dann wiederum durch die Kyphose in der BWS und die Lordose in der HWS ausgeglichen wurde – alles, um den Körperschwerpunkt möglichst rasch über die Hüftgelenke zu bringen und aufrecht stehen zu können.
Diese Architektur hat ihren Preis. Wie bereits festgestellt, ist der Körper ein großer Kompromiss. Jede Entwicklung, auch wenn sie am vorteilhaftesten fürs Überleben ist, bringt Nachteile mit sich – und das ist der Kompromiss. Ein Säulenbau der Wirbelkörper auf schiefem Fundament hat massive Schubkräfte und die Gefahr des Wirbelgleitens zur Folge. Es ist zudem ein Novum in der Evolutionsgeschichte, dass die Traglinie von Kopf bis Fuß gleich mehrmals von der Wirbelsäule geschnitten wird. Das schräge Fundament und das Kreuzen der Traglinie machen die Wirbelsäule anfällig für Überlastungen und degenerative Veränderungen.

ILIOPSOAS

Der Iliopsoas ist der einzige Muskel, der an der Wirbelsäule entspringt und über das Becken zum Hüftgelenk zieht – und damit die Beine und die Wirbelsäule direkt verbindet. Im Zuge der Entwicklung vom gebeugten Fortbewegen auf allen Vieren hin zum aufgerichteten Fortbewegen mussten die Hüftbeuger stark an Länge zunehmen. Daher sind heutzutage gefühlt „zu kurze“ oder „zu feste“ Hüftbeuger weit verbreitet.
Der Iliopsoas hat noch andere interessante Eigenschaften. Er hat über seine oberen Faserzüge eine direkte Verbindung zum Zwerchfell und beeinflusst somit die Wirbelsäule, das Becken und die Atmung. Zum Iliopsoas gehören neben dem Psoas minor und dem Psoas major auch der M. iliacus. Dem Psoas wird eine übergeordnete Rolle bei der Zentrierung des Femurkopfes im Hüftgelenk zugeschrieben, wobei der M. iliacus vor allem in der Hüfte eine Beugung bewirkt. Die tiefen Fasern des Gluteus maximus wirken synergistisch mit dem Psoas und tragen durch ein koordiniertes Zusammenspiel zu einer optimalen Zentrierung des Hüftgelenks bei.

GLUTEUS MEDIUS

Der Gluteus medius sitzt an der Außenseite der Beckenknochen und zieht zum großen Trochanter des Femurs. Dort trägt er zur Stabilisierung des Hüftgelenks und zu kontrollierten Beckenbewegungen bei. Er ist ein sehr wichtiger Muskel für den menschlichen Gang, denn er verhindert im Einbeinstand das Abkippen des Beckens zur gegenüberliegenden Seite. Er ist der entscheidende Muskel, wenn es darum geht, unseren Körper auf einem Bein zu stabilisieren – und das brauchen wir nicht nur, wenn wir auf einem Bein stehen, sondern auch beim Gehen und Laufen. Hier machen wir nichts anderes, als bei jedem Schritt unseren Körper kurzzeitig auf einem Bein zu balancieren. Somit stabilisiert er das Becken in der Frontalebene, damit sich das Schwungbein ungehindert nach vorn bewegen kann.
Er ist nicht nur ein Abduktor; seine vorderen Faseranteile beugen gleichzeitig und unterstützen die Innenrotation, seine hinteren Faseranteile strecken in der Hüfte und unterstützen die Außenrotation. Wenn es zu einer Ansteuerungsproblematik vom Gluteus medius und Gluteus minimus kommt,zum Beispiel bei einer Schädigung oder Kompression des Nervus gluteus superior, dann entwickeln Betroffene das „Trendelenburg-Zeichen“: Hierbei kippt die Hüfte bei jedem Schritt zur gegenüberliegenden Seite ab. Eine Kräftigung des Gluteus medius kann auch dabei helfen, Schmerzen in der LWS oder im Knie und Fuß zu beseitigen.

QUADRATUS LUMBORUM

Der Quadratus lumborum steht in engem Kontakt mit dem Erector spinae. Aufgrund seiner hohen propriozeptiven Dichte wird er auch als „Augen und Ohren“ des Erector spinae bezeichnet. Er verläuft seitlich der Wirbelsäule, hat seinen Ansatz an den Rippenfortsätzen der Lendenwirbel und an der 12. Rippe und entspringt am Beckenkamm. Somit hat er als Hauptfunktion eine Seitneigung (Lateralflexion) im Rumpf und eine Streckung der Lendenwirbelsäule; er trägt zu einer generellen Stabilisation der Wirbelsäule bei. Dysfunktionen in der LWS und im Becken führen häufig zu Verspannungen im Quadratus lumborum und genauso können Verspannungen im Quadratus lumborum zu Dysfunktionen in der Wirbelsäule und im Becken führen.

TRAINING UND BEFUNDUNG

Dank des „Joint-by-Joint Approach“ von Mike Boyle und Gray Cook wissen wir, dass einige Gelenke im Körper in erster Linie Stabilität und andere Mobilität ermöglichen. Gleichzeitig ist Stabilität allerdings die Voraussetzung für Mobilität und somit muss dort, wo Mobilität ist, auch Stabilität sein. Mit Blick auf die Hüfte und nach dem Joint-by- Joint Approach heißt das: Die Hüftgelenke sind für die Mobilität zuständig und die LWS ist für die Stabilität zuständig. Zur Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit (Mobilität) im Hüftgelenk sind CARS (Controlled Articular Rotations) ausgezeichnet geeignet. Um einen Eindruck vom aktuellen Stand und der Beweglichkeit der Hüfte zu bekommen, kommen beispielsweise der „Faber Test“ (er überprüft die Flexion, Abduktion und Außenrotation in der Hüfte) und der „Modified Thomas Test“, um die Hüftbeuger auf Hypertonie zu prüfen, infrage. Diese Tests sollten idealerweise vor einem gezieltem Training der Hüfte stattfinden.

EXZENTRISCHES KRAFTTRAINING

Um die Hüftbeuger wieder normoton zu bekommen, könnte man direkt anfangen, zu stretchen, was durchaus einen kurzfristigen Effekt haben kann, allerdings kaum einen langfristigen Erfolg erzielen wird. Deshalb bin ich ein großer Freund von exzentrischem Krafttraining oder anders ausgedrückt: einer Kräftigung in endgradigen Gelenkpositionen, in denen der Muskel stark verlängert ist. Das kann zu einer Verlängerung der Muskelfaser (Sarkomer-Neubildung), verbesserter Gelenkbeweglichkeit, erhöhter Muskelkraft und Reduzierung des Verletzungsrisikos beitragen. Eine meiner liebsten Übungen, um die Hüftbeuger auf die maximale Länge zu bringen und gleichzeitig Kraft aufzubauen (wie Kurt Mosetter es nennt: „Kraft in der Dehnung“, oder wie Ido Portal sagt: „Dort, wo Beweglichkeit ist, muss auch Kraft sein“) ist der Diagonal Stretch.

GLUTEUS MEDIUS

Um zu spüren, wie der Gluteus medius arbeitet, stelle dich einmal für ca. 10 Minuten auf ein Bein. Nach einiger Zeit wirst du ihn im Hüftbereich des angehobenen Beins deutlich spüren. In verschiedenen Studien wurde die Aktivität des Gluteus medius via EMG gemessen, um die Übungen mit der größten Gluteus-medius-Aktivität herauszufiltern. Hierbei zeigten sich folgende Übungen am effektivsten, um den Gluteus medius gezielt zu trainieren:

  • Side Plank with hip abduction
  • Single leg Squat
  • Lateral Band walk
  • Unilateral Bridge

FAZIT

Um dir zunächst einen Überblick über Problemstellen im Hüftbereich zu verschaffen, eignen sich der „Modified Thomas Test“ und der „Faber Test“. Der Joint-by-Joint Approach verrät uns, dass wir die LWS in erster Linie stabilisieren (kräftigen) und die Hüftgelenke beweglich machen sollten. Zur Verbesserung der Gelenkmobilität nutze CARS; zur Verbesserung der muskulären Flexibilität führe Übungen durch, die gleichzeitig Kraft in der Dehnung aufbauen (exzentrisches Krafttraining). Ein zusätzlich gezieltes Muskeltraining, zum Beispiel mithilfe der im Artikel erwähnten Übungen, von schwachen oder festen Muskeln, die die Hüfte maßgeblich beeinflussen, kann dir helfen, deine Hüfte stark, beweglich und schmerzfrei zu bekommen!


Julius Teuber-Autorenbild-TRAINER

JULIUS TEUBER

Der M. Sc Sportwissenschaftler und Physiotherapeut i. A. arbeitet in Leipzig als Personal Trainer und Referent an der Schnittstelle zwischen Training und Therapie.
www.juliusteuber.de


Foto: Julius Teuber, sompong_tom – stock.adobe.com


Dieser Artikel ist aus der TRAINER-Ausgabe 5-2022:

Trainer-Cover-5-2022

 

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