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Elektromyografie

Elektromyografie

Kraftpotenziale aktivieren durch Muskelaktivitätsanalyse

Die Sportphysiotherapeuten Simon Roth und Philipp Piroth erklären, wie sie mittels Elektromyografie (EMG) die neuromuskuläre Kontrolle von Profisportlern fördern und welche Bedeutung eine gute „Muscle-Mind-Connection“ für Freizeitsportler hat.

Während im Bereich der Trainingswissenschaften stetig neue Methoden entwickelt werden, um die Leistungsfähigkeit von Athleten zu steigern und sportliches Training im Sinne der Effizienz immer weiter zu optimieren, wird aus sportmedizinischer Sicht häufig eine wesentliche Komponente vernachlässigt: die Trainingsqualität. Im besten Fall äußert sich hierbei die falsche oder unsaubere Ausführung von Übungen und Bewegungen „nur“ in fehlgeleitetem Trainingspotenzial. Im schlimmsten Fall hingegen kommt es durch Fehlbelastung im Training oder im Wettkampf zu schwerwiegenden Muskelverletzungen.

DIE MUSCLE-MIND-CONNECTION

Profisportler können in diesen Fällen auf ein sportmedizinisches Funktionsteam zurückgreifen, das durch bildgebende Verfahren wie Ultraschall und Magnetresonanztomografie (MRT), Funktionsanalysen mittels Functional Movement Screen (FMS) oder Kraftanalysen durch Isokinetik den geeigneten Zeitpunkt zum „Return to Sport“ feststellen können. Ambitionierte Freizeitsportler hingegen erhalten einen vergleichbaren Zugang nur durch spezialisierte Sportphysiotherapeuten. In beiden Fällen wird trotz umfangreicher Analysen aber meist die Qualität der sogenannten Muscle-Mind-Connection, der neuronalenVerbindung zwischen Muskeln und dem Gehirn, die einen wesentlichen Teil unserer neuromuskulären Koordination bestimmt, nur wenig berücksichtigt.

MOTORISCHES LERNEN

Um die Einwirkungen der Muscle-Mind-Connection auf unser neuromuskuläres System zu verstehen und Fortschritte auf diesem Level beurteilen zu können, hilft es, sich die Entstehung motorischen Lernens zu veranschaulichen.
Als „motorisches Lernen“ wird der Erwerb einer motorischen Fertigkeit bezeichnet; dies können einfache Bewegungen wie das Heben eines Arms, aber auch komplexe kombinierte Bewegungsabläufe (wie z. B. beim Stabhochsprung) sein. Motorische Lernprozesse sind ein wesentlicher Bestandteil neuromuskulärer Koordination. In der Sportwissenschaft werden dabei drei Phasen des motorischen Lernens unterschieden (Meinel/Schnabel, 2007):
Als erste Phase wird die Phase der Grobkoordination bezeichnet. Diese Bewegungen weisen zwar die grundlegenden Merkmale einer angestrebten Bewegung auf, es fehlt jedoch an entsprechenden Kontrollmechanismen, die die Kraft dosieren und die Richtung der Bewegung justieren können.
In der zweiten Phase, der Feinkoordination, können Richtung und Kraft besser kontrolliert und somit dosiert werden. Es kommt bereits zu einer annähernd fehlerfreien Ausführung der Bewegung. Der Bewegungsablauf kann in dieser Phase durch Wiederholen und Üben in den komplexen Prozessen des Kleinhirns automatisiert werden.
Sind Bewegungen auch trotz externer Störfaktoren korrekt ausführbar, bewegen wir uns in der Phase der Feinstkoordination und somit in der dritten Phase des motorischen Lernprozesses. Das bedeutet, dass wir während des Vorgangs des motorischen Lernens unsere erworbenen Fertigkeiten immer gleichmäßiger, stabiler und automatisierter abrufen können. Während dieses Lernprozesses erfordern dieselben Bewegungen daher immer weniger bewusste sensomotorische oder visuelle Kontrollen. Möchten wir Bewegungen also in eine bestimmte Richtung lenken und kontrollieren, ist eine optimale Koordination der für diese Bewegung spezifischen Muskeln notwendig. Zusätzlich müssen auch der Bewegungsplan und die Bewegungsabsicht auf zentralnervaler Ebene aufeinander abgestimmt sein.

NEUROMUSKULÄRE KONTROLLE

Der initiale Impuls für eine bewusste Bewegung erfolgt dabei in immer identischen Schritten. Der Entschluss zu einer Bewegung wird im Gehirn gefasst, über absteigende Bahnen und diverse Kontrollmechanismen zur motorischen Endplatte, dem Bindeglied zwischen Nerv und Muskel, geleitet und dort mittels spezieller Transmitter auf die Muskelzelle übertragen. Dies führt bei adäquatem Reiz zu einer Kontraktion der Muskulatur. Untersuchungen der Gehirnaktivität (EEG) haben bereits in der Vergangenheit gezeigt, dass trainierte Sportler eine höhere Neuronenaktivität in den für die Bewegungsvorstellung vorgesehenen Hirnregionen aufweisen als Nichtsportler. Zudem sind Hirnregionen, die an diesem Prozess nicht beteiligt sind, weniger aktiv. Das Gehirn eines geübten Sportlers arbeitet somit auf neurophysiologischem Level effektiver und ökonomischer als das Gehirn eines Nichtsportlers.

DER MUSKULÄRE OUTPUT

Eine gute selektive Ansteuerung der Zielmuskulatur scheint ein wichtiger Faktor für die neuromuskuläre Kontrolle zu sein. Der Neurowissenschaftler Andrew Hubermann beschreibt in seinem Podcast in der Folge „Science & Tools For Muscle Growth,Increasing Strength & Muscular Recovery“ diese Fähigkeit als Basis muskulären Wachstums. Laut Hubermann ist die Fähigkeit, Muskeln aufzubauen, umso größer, je gezielter diese angesteuert werden können. Selbst Arnold Schwarzenegger ging bereits bei seinem Training von einer ähnlichen Vorstellung aus: „In order to get the perfect pump, your mind has to be the body’s guide, thinking about every part of the movement, every contraction, every squeeze.”
Vergleichbare Ansätze dieser „mind in the muscle Technik sind heute bei einer Vielzahl von Sportlern in der Wettkampfvorbereitung sichtbar und werden durch mentales Training immer mehr gefördert. Im Alltag eines Freizeitsportlers passiert unweigerlich das Gegenteil: Die Inaktivität der Muskeln im Alltag führt zu einer Vernachlässigung oder sogar zum Verlust der Muscle- Mind-Connection.

SCREENING-VERFAHREN

In den vergangenen Jahren haben wir ein Screening-Verfahren entwickelt, mit dessen Hilfe man sich rasch einen Überblick über die zentralen Stabilisatoren verschaffen kann. Das „myoact Mapping“ umfasst hierbei die wichtigsten stabilisierenden Muskelgruppen, wie z. B. den M. trapezius ascendens und den M. trapezius descendens, den M. transversus abdominis, den M. gluteus medius und den M. erector spinae. Die Bilder im Artikel zeigen den Mapping-Prozess der Mm. trapezius ascendens und descendens. Ein wesentliches Kriterium ist die Fähigkeit, Muskeln ohne die Co-Kontraktion anderer für die Bewegung nicht benötigter Muskeln zu aktivieren. Diesen Vorgang bezeichnen wir als „maximum voluntary activation“ (MVA). Neben dem MVA ist auch die „selectiv voluntary activation“ (SVA) von Bedeutung. Sie bezeichnet die Fähigkeit, Muskeln einseitig willentlich zu aktivieren.

DIE MUSCLE-MINDCONNECTION SICHTBAR MACHEN

Sowohl im Leistungs- als auch im Breitensport ermöglicht die elektromyografische Analyse (EMG) einen detaillierten Blick auf komplexe neurophysiologische Mechanismen in der ausführenden Muskulatur. Die Qualität der Muscle- Mind-Connection kann ermittelt und Trainingserfolge messbar gemacht werden. Die Elektromyografie ist ein seit Jahren in der Wissenschaft anerkanntes Verfahren zur Feststellung von Muskelaktivitäten. Hierfür werden Elektroden, die an einen Sender gekoppelt sind, oberflächlich auf den Muskelbauch geklebt. Die vorherige beschriebene Reizung des Muskels durch den Nerv kann daraufhin als elektrische Spannung in Mikrovolt [μV] gemessen und visualisiert werden. Zu den wichtigsten Fragen, die sich mittels elektromyografischer Analyse beantworten lassen, gehören vor allem, ob, wann und wie stark ein Muskel aktiviert werden kann.

KORRELATION VON SIGNAL UND KRAFT

Gerade im Bereich des Fitnesssports kursiert die Missinterpretation, dass ein hohes EMG-Signal immer mit hoher Kraft in Korrelation gesetzt werden könne. Ein hohes Signal auf den Wirkungsgrad und die Effektivität verschiedener Übungen zurückzuführen, ist hierbei keine ausreichende Schlussfolgerung, denn was durch EMG ermittelt werden kann, ist in erster Linie das Maß an Aktivierung, die der Muskel durch die Nervenstimulation erfährt.
Ein schlecht trainierter Muskel oder ein Muskel, der durch eine bestimmte Gelenkposition in einen für die Bewegung ungünstigen Winkel gebracht wurde, kann einen deutlich höheren Ausschlag im EMG aufweisen als ein trainierter oder in einem besseren Winkel arbeitender Muskel. Zudem können trainierte Muskeln bei gleicher Last ökonomischer arbeiten, das bedeutet, sie benötigen weniger Aktivität, um dieselbe Last zu stemmen, was sich dann in einem geringeren EMG-Signal äußert. Auch werden bei einem weniger trainierten stets schlechtere Werte in der MVA und SVA gemessen.

HOHES KRAFTPOTENZIAL SICHTBAR

Das volle EMG Signal entfaltet sich erst, wenn der Athlet maximal belastet wird. Dann zeigen sich deutlich höhere Werte als bei einem untrainierten. Es besteht also eine relative Korrelation von Kraft und Aktivität. Umgekehrt kann durch Muskelaktivität alleine, keine Rückschluss auf das Kraftpotenzial gezogen werden. Darüber hinaus sollte ein EMG-Training niemals eigenständige Kraftmessungen oder gar die Expertise eines Trainers ersetzen sondern als eine Erweiterung des Leistungsportfolios verstanden werden. Mithilfe der EMG kann ein wesentlicher Teil der neuromuskulären Kontrolle visualisiert und gemessen werden, der bisher für Trainer und Sportler nur durch subjektives Empfinden ein sehr schwer zu ermittelnder Wert war. Basierend auf diesen Erkenntnissen können Athletiktrainer Schwerpunkte im Training definieren. Besteht bereits eine gute muscle-mind-connection beim Athleten kann das Training analog erfolgen und die EMG dient der Dokumentation von Trainingserfolgen. Bestehen noch Fragen hinsichtlich der Ansteuerung können Athletiktrainer die EMG auch als Biofeedbacktraining anwenden.

BIOFEEDBACK-TRAINING

Ziel des Biofeedback-Trainings ist es, die Verbindung zwischen Bewegungsplan und Muskeln wiederherzustellen. Trainer können Athleten dazu anleiten, Bewegungsmuster von einfachen, grobmotorischen Mustern hin zu immer komplexeren Bewegungsabläufen zu verinnerlichen. Die Steigerung der motorischen Beanspruchung muss dabei nicht zwangsläufig in sportartspezifischen Ausgangspositionen erfolgen. Das Hauptaugenmerk liegt vielmehr auf der Implementierung der in grobmotorischen Mustern erlernten Aktivierung in verschiedenen Bewegungen, um den motorischen Lernprozess zu beschleunigen und zu vertiefen. Durch EMG lassen sich diese Lernprozesse qualitativ erfassen und die Erfolge dokumentieren.

FAZIT

EMG visualisiert die Qualität der Muscle- Mind-Connection. Trainer können in Ergänzung zu ihren bekannten Methoden die Muskelqualität in einem ganzheitlichen Training nutzen. Das „Mapping“ hilft Trainern, Dysbalancen, die mit bloßem Auge nicht sichtbar sind, zu erkennen, Defizite in der Muskelqualität zu messen und Trainingserfolge zu dokumentieren. Mittels Biofeedback-Training wird die Ansteuerung von Muskeln trainiert und für den Kunden verständlich gemacht.


PHILIPP PIROTH
Der Sportphysiotherapeut und Biofeedback-Spezialist ermöglicht in seiner Praxis nahe Köln Patienten den Zugang zu Technologien aus dem Leistungssport. Als EMG-Therapeut berät er zudem Sportler des Olympiastützpunktes und Profifußballer.
www.myoact.de


SIMON ROTH
Der Physiotherapeut und EMG-Spezialist setzt seinen Schwerpunkt in der Orthopädie, Sportmedizin und Chirurgie. Er betreut in seiner Privatpraxis in Mainz Profisportler und arbeitet mit Bundesliga und Premier League Vereinen zusammen.
www.myoact.de


Fotos: Philipp Piroth, Simon Roth

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