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Gehirn im Überlebensmodus

Gehirn im Überlebensmodus

Wie die Interozeption unser Essverhalten beeinflusst

Die meisten Menschen wissen, dass ein Salat mit Hähnchenbrust gesünder und figurfreundlicher ist als ein Burger mit Pommes und Mayonnaise. Doch was hält sie dann davon ab, ihr Essverhalten dementsprechend zu verändern?

Die Hauptaufgabe unseres Gehirns besteht darin, unser Überleben zu sichern. Dazu stellt es sich – salopp ausgedrückt – immer wieder die Frage, ob das, was wir gerade tun, wirklich sicher ist und nicht unser Überleben gefährdet. Es erhält permanent eine riesige Menge an Informationen von allen Sinnesorganen und den dazugehörigen Rezeptoren, Leitbahnen und Nerven. Diese Daten lassen sich grob in drei Kategorien einteilen:

1. Exterozeption

Die Exterozeption beschreibt die Außenwahrnehmung durch Sinnesorgane, Nerven und Rezeptoren. Die meisten Informationen erhalten wir dabei über die Augen. Aber auch der Geruchssinn, das Gehör oder unser Tastsinn fallen in diese Kategorie. Brillen oder Hörgeräte sind bekannte Beispiele, mit denen wir durch Technologie Defizite ausgleichen.

2. Propriozeption

Hiermit wird die Wahrnehmung von Körperbewegungen und -lage im Raum oder von einzelnen Gelenken zueinander bezeichnet. In der Reha werden beispielsweise nach Verletzungen Übungen durchgeführt, die die Wahrnehmung der verletzten Gelenke wiederherstellen sollen.

3. Interozeption

Durch die Interozeption nehmen wir einzelne Körperabschnitte sowie das, was im Körperinneren passiert, wahr. Beispiele dafür sind der Blutzuckerspiegel, der Gehalt von Sauerstoff oder Stickstoff im Blut oder die Füllzustände von Magen, Blase oder Darm. Da diese Daten für das kurzfristige Überleben extrem wichtig sind, liegt es nahe, dass wir am schnellsten unser Verhalten ändern, wenn hier etwas nicht stimmt. Wir reagieren dann unverzüglich und verändern die Atemfrequenz, gehen zur Toilette oder nehmen Flüssigkeit beziehungsweise Nahrung auf. Auch hierbei können Defizite in der Wahrnehmung entstehen. Doch im Gegensatz zu den anderen beiden Kategorien sind Techniken zur Wiederherstellung hier eher unbekannt, obwohl dieser Bereich aus Sicht des Gehirns eigentlich die höchste Priorität einnimmt.

Draht zwischen Magen und Gehirn

Der Vagusnerv ist an der motorischen Steuerung von Kehlkopf, Rachen und Speiseröhre beteiligt und übermittelt Geschmacksempfindungen von der Zunge sowie Berührungsempfinden aus dem Rachen und dem Kehlkopf. Darüber hinaus innerviert er unter anderem das Zwerchfell (Hauptmuskel zur Atmung), den Magen, den Dünndarm sowie etwa zwei Drittel des Dickdarms und löst den Schluck- oder Würgereflex aus. Als Hilfsnerven fungieren die Hirnnerven neun und elf, welche die motorische Steuerung der Zunge sowie des oberen Trapezius und des Sternocleidomastoideus (SCM) übernehmen. Allein aus dieser Aufzählung der Funktionen sollte hervorgehen, dass es unmöglich ist, beim Thema „Ernährung“ die Vagusnervgruppe nicht zu beachten!

Ungenaue Informationen

Wenn beispielsweise die Informationen über einen sehr niedrigen Blutzuckerspiegel in Kombination mit einem Mangel bestimmter Aminosäuren im Gehirn eingehen, stellt das eine potenzielle Bedrohung für das Überleben dar. Als Reaktion auf diese Interpretation bekommt man Hunger, welcher das Verhalten ändern soll (früher jagen, heute zum Supermarkt oder Kühlschrank gehen). Was ist aber, wenn die im Gehirn eintreffenden Informationen sehr ungenau sind? Eine unklare Faktenlage bedeutet für das Gehirn ebenfalls ein potenzielles Überlebensrisiko. Und bevor ein solches Risiko eingegangen wird, löst es lieber präventiv ein Hungergefühl aus – auch wenn dieses nicht der Realität entspricht.

Essen als Stimulus für ein fehlerhaftes System

Genau hier startet unser zu Beginn angesprochenes Umsetzungsproblem. Es ist einfach unmöglich, permanent gegen einen fehlerhaften Informationsmechanismus anzukämpfen. Und das hat rein gar nichts mit fehlender Willenskraft, nicht vorhandener Zielorientierung oder mangelndem Engagement zu tun: Wenn dem Gehirn nicht klar ist, was eigentlich im Inneren des Körpers vorgeht, ist Essen ein sehr guter Stimulus für dieses fehlerhafte System. Denn es geht einher mit einer Aktivierung von Zunge, Rachen, Speiseröhre, Schluckreflex, Magendehnungsrezeptoren und Darm. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass bei vielen Essstörungen wie Anorexie, Bulimie, Fettsucht oder bei Übergewicht eine Störung der Innenwahrnehmung zumindest ein Teil der Problematik ist.

Einflussfaktor Stress

Der Vagusnerv wird auch als der „Hauptnerv des Parasympathikus“ bezeichnet und spielt als Teil des vegetativen Nervensystems eine wesentliche Rolle für Entspannung, Erholung, Ruhe und Regeneration. Aus diesem Grund ist Essen auch ein wirkungsvolles Mittel zur Stressbewältigung. Es aktiviert den Vagusnerv und beruhigt unseren Sympathikus („fight or flight“). Zum anderen ist Insulin, das wir als Reaktion auf Kohlenhydrate ausschütten, der natürliche hormonelle Gegenspieler von unseren Stresshormonen. Die Vermittlung von Entspannungstechniken oder Meditation ist aus diesen Gründen auch eine gute Idee, um Kunden mit einem hohen Stresslevel im Zuge einer Ernährungsberatung begleitend zu unterstützen.
Lösungsansätze

Auch wenn es – zugegeben – zunächst etwas gewöhnungsbedürftig ist, haben wir in der Praxis sehr gute Erfolge mit der Aktivierung der Vagusnervgruppe erzielt. Dazu möchten wir nachfolgend einige Beispiele geben:

  • Da der Vagusnerv das Zwerchfell innerviert, sollte unbedingt bei jedem Kunden getestet werden sowie dazu passende Atemübungen mit Fokus auf die Zwerchfellatmung als Hausaufgabe gegeben werden.
  • Meditation ist eine gute Technik zur Aktivierung der Innenwahrnehmung. Es gibt mittlerweile sehr gute Apps, die dieses Thema leicht umsetzbar machen.
  • Übungen zur Wahrnehmung der Zunge haben in mehrfacher Hinsicht einen großen Effekt auf unser Gehirn.

Dieses umfassende Thema ist wirklich spannend und wir versprechen uns in der Zukunft auf der Basis von weiteren Erkenntnissen eine Vielzahl an Therapiemöglichkeiten, um Kunden bei dem „Umsetzungsproblem“ helfen zu können. Definitiv erleichtert Betroffenen dieses Verständnis den psychologischen Umgang mit sich selbst. Denn das immer wiederkehrende Verhalten ist lediglich ein Zeichen für ein Gehirn auf der Suche nach dem richtigen Stimulus und keine charakterliche Fehlleistung.


3 Übungen zur Aktivierung der Interozeption über die Zunge

MASAKO-MANÖVER

Der Trainierende schiebt seine Zunge zwischen die Schneidezähne und hält sie dort mit einem leichten Druck mit den Zähnen fest. Dann schluckt er (ohne etwas zu trinken) 3–4 Mal hintereinander.


GAUMEN STREICHELN

 

 

 

 

 

 

Der Trainierende startet mit der Zungenspitze an der Innenseite der oberen Schneidezähne. Während die Zunge am Gaumen entlang nach hinten in Richtung Zäpfchen streicht, versucht er, den Mund so weit wie möglich zu öffnen.


ZUNGEN-KREISE

 

 

 

 

 

 

Der Trainierende startet mit der Zunge auf der Außenseite der oberen Schneidezähne. Von hier streicht er auf der Außenseite der Zähne bis hinten zum letzten Backenzahn und wechselt dann zum letzten Backenzahn auf der Unterseite. Auf diese Weise „poliert“ man sich selbst dreimal in die eine und dreimal in die andere Richtung die Zähne.

Alle Übungen sollten in der Praxis täglich mehrfach durchgeführt werden; idealerweise direkt vor und nach jedem Essen.


Niko Romm | Geschäftsführer von Valeo Personal Training in Bonn: Personal Training, Firmenfitness, Workshops und Seminare; Mitgründer und Head of Education der Firma Letsbands, Performance Education Specialist bei EXOS.

www.letsbands.com; www.valeostudio.de

Fotos: Valeo Academy

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