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Hamstrings – Anatomie und Biomechanik

Hamstrings – Anatomie und Biomechanik

Mit dem Wissen, wie die Hamstrings funktionieren, können wir das entsprechende Training optimieren, die sportliche Leistungsfähigkeit verbessern, Verletzungen vorbeugen und wirksamere Rehaprogramme für Muskelgruppen konzipieren. Julius Teuber wirft einen genaueren Blick auf unsere Beinrückseite.

Die Hamstrings sind aus mehreren Gründen besonders interessant. Sie sind in vielen Sportarten absolut leistungsdeterminierend, da sie bei jeglichen Laufund Sprungbewegungen eine entscheidende Rolle spielen. Beispielsweise kommen 80 Prozent der Leistung im Counter Movement Jump aus der hinteren Kette (Posterior Chain), wozu auch die Hamstrings zählen. Gleichzeitig ist es die Muskelgruppe, die in vielen Sportarten wie Fußball, Sprinten, American Football und Rugby am häufigsten von Verletzungen ohne Einwirkung eines Gegenspielers (non-contact injury) betroffen ist. Im Kraftsport bekommen die Hamstrings aber häufig nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienen – vielleicht, weil sie vor dem Spiegel nicht so gut zu bewundern sind? Wenn man sich die beeindruckende ischiocrurale Muskulatur von Sprintern anschaut, sollte dies Grund genug sein, der Beinrückseite schleunigst mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

ANATOMIE

Zu den Hamstrings zählen drei Muskeln, die sich auf der Beinrückseite befinden. Diese entspringen alle am Tuber ischiadicum, einem Teil des Beckens (Os ischii), und setzen am Unterschenkel (Crus) an, weswegen die Muskelgruppe auch ischiocrurale Muskulatur genannt wird. Die drei Muskeln können in einen äußeren (lateralen) Anteil (M. biceps femoris) und einen inneren (medialen) Anteil (M. semimembranosus und M. semitendinosus) unterteilt werden. Der Biceps femoris ist, wie der Name schon verrät, doppelköpfig; er hat einen kurzen und einen langen Kopf. Alle Muskeln der Hamstrings sind biartikulär, das heißt, sie ziehen über zwei Gelenke, in diesem Fall über Hüft- und Kniegelenk. Nur der kurze Kopf des Biceps femoris ist ein eingelenkiger Muskel (monoartikulär), der nur über das Kniegelenk zieht und damit lediglich eine beinbeugende Funktion besitzt. Die restlichen Muskeln der Hamstring-Gruppe haben ihre Hauptaufgabe in der Beugung des Kniegelenks und der Streckung des Hüftgelenks. Doch diese einfache Betrachtungsweise wird den Hamstrings nicht ausreichend gerecht.

MEHR ALS NUR KNIEBEUGER UND HÜFTSTRECKER

Neben der Beugung im Knie und der Streckung im Hüftgelenk ist der äußere Anteil der Hamstrings für die Rotation der Hüfte nach außen und der innere Anteil für die Hüftrotation nach innen zuständig. In der Praxis können wir also durch unsere Fußposition (Innen- oder Außenrotation z. B. während Leg Curls) bestimmen, ob wir mehr Fokus auf den medialen oder den lateralen Anteil der Hamstrings setzen wollen. Welcher Anteil der Hamstrings bei dir stärker ist, kannst du herausfinden, indem du Leg Curls bis zur Erschöpfung durchführst und ein Partner darauf achtet, in welche Richtung sich deine Füße in den letzten noch möglichen Wiederholungen drehen. Aufgrund ihres Ursprungs am Tuber ischiadicum und ihres Ansatzes lateral am Wadenbeinköpfchen und medial an der Tibiakondyle ziehen die Hamstrings den Unterschenkel nach hinten und entlasten somit als Synergist das vordere Kreuzband (ACL). Aus diesem Grund wird in Zusammenhang mit präventiven Maßnahmen zur Vermeidung von ACL-Rupturen häufig über das „H:Q-Verhältnis“ gesprochen, also das Verhältnis zwischen der Kraft der Hamstrings und der Kraft des Quadrizeps, das in einem optimalen Verhältnis liegen sollte.

PROBLEMLÖSER

Durch die vielfältigen Eigenschaften und Funktionen, die zweigelenkige Muskeln haben, sollten sie als Problemlöser betrachtet werden, die das Feintuning von Bewegungen regulieren. Wollen wir besonders hoch springen oder schnell aus dem Sprint abstoppen, so übernehmen die zweigelenkigen (biartikulären) Muskeln das „Feintuning“ der relevanten Muskulatur, um eine optimale Positionierung der Gelenke und Segmente sowie eine Maximierung der Leistung durch die Weiterleitung von Kräften zu ermöglichen. Die Feinabstimmung des Gesamtsystems wird auch dadurch unterstützt, dass einige zweigelenkige Muskeln über mehr als das Doppelte an Feedback-Sensorik verfügen als eingelenkige Muskeln. Nun wissen wir, dass biartikuläre Muskeln sehr wichtig für die intermuskuläre Koordination sind, weshalb es gerade im Athletiktraining Sinn macht, die Hamstrings für die im Sport auftretenden Bewegungsmuster zu trainieren und nicht isoliert. Im Bodybuilding sieht das natürlich wieder anders aus.

LOMBARDSCHES PARADOXON

Die Hamstrings können nicht nur eine Beugung, sondern in bestimmten Situationen auch eine Streckung im Kniegelenk bewirken – also genau das Gegenteil ihrer hauptsächlichen Funktion. Dies ist allerdings nur in einer geschlossenen Kette möglich und kommt zum Beispiel beim Sprinten oder bei Absprungbewegungen vor.

DOMINANTE ROLLE

Es sollte bereits klar geworden sein, welch dominante Rolle die Hamstrings (neben der Glutealmuskulatur) in Sprintsportarten haben. Im Sprint bremsen sie durch ihre beinbeugende Funktion den nach vorn schießenden Unterschenkel in der späten Schwungphase ab, strecken die Hüfte in der Standbeinphase und arbeiten beim „Toe off“ (Verlassen des Fußes vom Boden) reaktivkräftig, indem sie ihre zuvor gespeicherte elastische Energie abgeben und in eine horizontale Beschleunigung umwandeln.
Verletzungen der Hamstrings treten beim Sprinten besonders in der späten Schwungphase auf, in der die Beinbeuger exzentrisch arbeiten müssen, um den nach vorn schnellenden Unterschenkel abzubremsen. Dort kommt es durch die Streckung im Kniegelenk zu hohen exzentrischen Kräften und einer Dehnung der ischiocruralen Muskulatur. In dieser Phase zeigen die Hamstrings die größte elektromyographische Aktivität auf, müssen also am kräftigsten arbeiten. Selbst bei einem gezielten Krafttraining der Hamstrings kommt es zu keinen höheren EMG-Aktivitäten. Daher sollte in der Rehabilitation nach Hamstring-Verletzungen ein exzentrisches und isometrisches Training mit hohen Lasten in verlängerter muskulotendinöser Position Beachtung finden. Auch Sprinten ist ein extrem gutes Hamstring-Training!

HISTOLOGISCHE EIGENSCHAFTEN

Die Hamstrings besitzen einen sehr großen und wichtigen Anteil an Bindegewebe. Genau wegen diesem großen Anteil an passivem Gewebe sind die Hamstrings auch ideal dafür geeignet, aus einer Vordehnung heraus (z. B. Aufsatz des Fußes beim Sprinten) elastisch gespeicherte Energie abzugeben (z. B. Toe off im Sprint). Für die Speicherung und Abgabe elastischer Energie sind tendofasziale Strukturen hervorragend geeignet. Genau deshalb können Tiere wie die Gazelle oder das Känguru, die wenig muskulös erscheinen, trotzdem erstaunlich hohe und weite Sprünge ausführen und große Geschwindigkeiten erreichen. Häufig wird den Beinbeugern nachgesagt, einen hohen Anteil an schnell zuckenden Muskelfasern zu haben. In einer älteren, aus dem Jahr 1984 stammenden histologischen Untersuchung konnte dies auch gezeigt werden. Der Großteil der mir bekannten neueren Untersuchungen deutet allerdings eher auf eine ausgewogene Verteilung von Slow- und Fast-Twitch-Fasern hin, ähnlich wie beim Quadrizeps.

HÜFTEXTENSION UND KNIEFLEXION

Jetzt, wo die Hauptfunktion der Hamstrings bekannt ist, wissen wir auch, dass sich diese sowohl mit hüftstreckenden Übungen (Deadlift-Variationen, Reverse Hyper, Back Extension, Good Mornings etc.) als auch mit kniebeugenden Übungen (Leg-Curl-Varianten aller Art, Nordic Hamstring Curl etc.) trainieren lassen. Diese beiden Übungstypen sollten in ein vollständiges Hamstring-Training integriert werden.
Um die Sprint- und Sprungfähigkeit im Kraftraum zu verbessern, bietet sich eine Kombination aus schwerem exzentrischem und schwerem isometrischem Training der Beinbeuger an. Dies sollte zum großen Teil in einem großen Kniewinkel stattfinden. Das schwere exzentrische Training hilft, den Unterschenkel in der späten Schwungphase zu entschleunigen, und das schwere isometrische Training unterstützt dabei, die Stützphase im Sprint zu verbessern, in der die Hamstrings quasi-isometrisch, mit nur minimaler Längenänderung, arbeiten.

LEG CURLS

Der Körper ist immer bestrebt, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen, und bringt als sich selbst organisierendes System seine Muskeln in eine möglichst optimale Arbeitsposition, in der die größten Kräfte generiert werden können. Während der Übung Leg Curls, ausgeführt bäuchlings auf einer flachen Bank, kann man das gut beobachten. Je näher die Fersen in Richtung Gesäß gezogen werden, desto mehr wird das Becken nach vorn gekippt und vom Polster abgehoben. Durch das Nach-vorn- Kippen des Beckens wird der obere Anteil der Hamstrings gedehnt, während sich durch das Beugen in den Knien der untere Anteil verkürzt. Der Muskel bleibt so in einer stärkeren Position, da sich wieder mehr Myosin- und Aktinfilamente überlappen. Allerdings ist diese Position nicht sehr günstig für die Lendenwirbelsäule, weshalb ich Leg Curls auf einer „hump shaped“-Maschine empfehle. Auf dieser ist die LWS weniger Stress ausgesetzt und man hat eine bessere Muskelfaserrekrutierung.

TRAININGSTIPPS FÜR HAMSTRINGS

Die Hamstrings sind eine komplexe Muskelgruppe mit sehr speziellen Eigenschaften. Trainiere die Hamstrings mit unilateralen Übungen als erste Muskelgruppe im Training. Baue zudem Sprints in dein Training ein und beachte die Erholungszeit. So könnte eine Hamstring-Einheit alle 5 Tage, zumindest zu Beginn, erst einmal eine sinnvolle Trainingsfrequenz darstellen.

 


JULIUS TEUBER
Der M.Sc. Sportwissenschaftler und Physiotherapeut i. A. arbeitet in Leipzig als Personal Trainer und Referent an der Schnittstelle zwischen Training und Therapie.
www.juliusteuber.de


Foto: Halfpoint – stock.adobe.com,Julius Teuber


Diesen sowie weitere Artikel findest du in der TRAINER Ausgabe 05|2021

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