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Körperhaltung

Körperhaltung

Mythen und Fakten

Es klingt absolut plausibel: Wenn ein Muskel durch eine Fehlhaltung aus seiner optimalen Position genommen wird, muss er mehr Arbeit leisten, wird überlastet und fängt irgendwann an zu schmerzen. Felix Kade hat untersucht, inwieweit diese Vermutung stimmt und ob sie mit dem heutigen Verständnis von der Entstehung von Schmerzen vereinbar ist.

Schon Kinder werden zu einer aufrechten Körperhaltung ermahnt, da diese mit Gesundheit und Stärke assoziiert wird. In dem Buch „Stand Up Straight! A History of Posture“ beschreibt Sander Gilman, woher dieser Glaube kommt. Er führt an, dass eine optimale Haltung zuerst in militärischen Organisationen beschrieben wurde. Dort arbeiteten Ärzte, die das Konzept einer optimalen Haltung auf die Allgemeinbevölkerung übertrugen. Über die Jahrhunderte hat sich der Gedanke tief in unserem gesellschaftlichen Bewusstsein verankert. Heute „weiß“ jeder, dass ein Hohlkreuz zu Rückenschmerzen führt, runde/hängende Schultern Beschwerden auslösen, ein vorgeschobener Kopf Nackenprobleme begünstigt und ein schiefes Becken zu allem Möglichen führt.

UPPER/LOWER-CROSS-SYNDROM

Mitte des 20. Jahrhunderts beschrieb der tschechische Arzt Vladimir Janda das Upper- und Lower-Cross-Syndrom. Unter Ersterem versteht man eine hängende Haltung, die mit typischen muskulären Dysbalancen im Schultergürtel einhergehen und zu Schmerzen im Schulter-Nacken-Bereich führen soll. Das Lower- Cross-Syndrom beschreibt eine typische muskuläre Dysbalance im Unterkörper, die mit einem Hohlkreuz und daraus resultierenden Rückenschmerzen verbunden sein soll. Damals war diese Idee revolutionär und verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Mittlerweile hat die Wissenschaft jedoch klare Belege gegen diese Theorie vorlegt. Zum Beispiel gibt es keinen Zusammenhang zwischen der Haltung und der Steifigkeit der Muskulatur (Naseri 2010). Aber sehen wir uns dazu zwei konkrete Beispiele an.

HOHLKREUZ UND RÜCKENSCHMERZEN

Ist die natürliche Lordose der Lendenwirbelsäule übermäßig ausgeprägt, sprechen wir von einer Hyperlordose oder einem Hohlkreuz. Da dies zu Problemen führen kann, versuchen viele Trainer auf Biegen und Brechen, ihre Kunden zu einem flachen Rücken hinzutrainieren.
Der Theorie von Janda nach soll ein Hohlkreuz durch einen festen Hüftbeuger, ein schwaches Gesäß und schwache Bauchmuskeln entstehen. Dabei haben Walker et al. schon 1987 herausgefunden, dass sich ein vorgekipptes Becken und ein damit einhergehendes Hohlkreuz durch ein Training der Bauchmuskeln nicht verändern lassen. Diese Erkenntnis wurde wiederholt bestätigt (z. B. Levine 1997).
Den Hüftbeuger zu dehnen bringt zumindest bei untrainierten und älteren Menschen etwas – bei aktiven Menschen funktioniert das nicht mehr (Watt et al. 2011). Neuere Untersuchungen zeigen sogar, dass sich ein Hohlkreuz zwar bei symptomatischen Patienten korrigieren lässt, nicht aber bei asymptomatischen. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass ein Hohlkreuz vielmehr die Folge von Schmerzen ist und nicht die Ursache. Tatsächlich gibt es mindestens genauso viele Menschen mit Rückenschmerzen, die ein Hohlkreuz haben, wie es Menschen mit Rückenschmerzen gibt, die kein Hohlkreuz haben (Murrie 2013). Und wenn 85 Prozent aller Männer und 75 Prozent aller Frauen ein Hohlkreuz haben (Herrington 2011), liegt der Verdacht nahe, dass ein Hohlkreuz an sich kein Problem darstellt.

KOPFHALTUNG UND NACKENPROBLEME

Denkst du bei einer vorgestreckten Kopfhaltung auch gleich an eine übermäßige Nutzung von Smartphone, Computer und Co.? Interessant ist, dass schon vor hundert Jahren viele Menschen genau diese Kopfhaltung einnahmen. Auch hier liefert das Upper-Cross-Syndrom eine plausible Erklärung, die aber der wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhält. Ein Forscherteam um Karen Richards untersuchte 2016, welche Gemeinsamkeiten Menschen mit verschiedenen Körperhaltungen haben. Es zeigte sich, dass Menschen umso aufrechter sitzen und stehen, jemehr Sport sie machen. Gleichzeitig wiesen die Menschen, die unter Übergewicht oder Depressionen litten, eine rundere Sitzhaltung und einen weiter vorgeschobenen Kopf auf. Dabei hatte die Dauer des Sitzens keinen Einfluss auf die Kopfposition und die Verteilung der Nackenschmerzen war zwischen den Gruppen etwa gleich. Auch von anderen Forscherteams wissen wir, dass übermäßiges Sitzen nicht mit einer vorgestreckten Kopfhaltung oder mit Nackenbeschwerden einhergeht (Straker et al. 2008). Wenn man dies so liest, könnte man auf die Idee kommen, dass die Haltung gar keine Rolle spielt, was aber nicht stimmt. Aber sie ist nur ein Faktor von vielen, der bei Schmerzen wichtig ist. Um das besser zu verstehen, brauchen wir ein modernes Schmerzverständnis.

SCHMERZVERSTÄNDNIS

Stell dir vor, du landest nach einem Sprung mit dem Fuß genau auf einem Nagel, der sich zwischen deinen Zehen durch deinen Schuh bohrt. Obwohl keine Verletzung stattgefunden hat, stellt sich als Reaktion sofort ein Schmerz ein. Im Krankenhaus wird der Schuh mühevoll vom Fuß geschnitten – und der Schmerz lässt abrupt nach. Dieses Beispiel wurde 1995 im British Medical Journal veröffentlicht. Daraus lernen wir verschiedene Dinge. Ganz wichtig: Es gibt keine Schmerzrezeptoren – sonst hätte der Fuß wehgetan, weil er verletzt wurde. Wurde er aber nicht. Er tat weh, weil unser Gehirn – basierend auf den zur Verfügung stehenden Informationen – eine Antwort gab. Der Mann sah den Nagel aus dem Schuh ragen und alle bisherigen Erfahrungen mit „Nagel im Fuß“ legten nahe, dass etwas kaputt ist. Eine Schmerzreaktion ist also eine sinnvolle protektive Antwort des Systems. Mit den neuen Informationen, dass der Nagel zwischen den Zehen hindurchging, kann die Schmerzantwort neu überdacht werden. Die Folge: Sie ist nicht mehr sinnvoll. Schmerz ist also eine Interpretation unseres Gehirns, basierend auf unfassbar vielen Informationen. Faktoren wie Verletzungen, Überzeugungen, Entzündungen, Kontextfaktoren, Sinneseindrücke, Depression, Stress, Schlafmangel und vieles mehr spielen dabei eine Rolle.

KÖRPERHALTUNG UND SCHMERZEN

Therapeuten, die viel mit Schmerzpatienten arbeiten, die unter Schulter-, Rücken- oder Nackenbeschwerden leiden und zufällig immer auch eine „schlechte“ Haltung haben, folgern oft daraus, die Haltung sei dafür verantwortlich, obwohl inzwischen erwiesen ist, dass eine „schlechte“ Haltung eher die Folge von z. B. Depression, Stress oder Übergewicht ist. Dennoch sagen sie ihren Patienten, die Schmerzen kämen von der Haltung. Damit können sie unbewusst den sogenannten Nocebo-Effekt auslösen: Die Patienten werden immer denken, die „falsche“ Haltung sei eine Bedrohung. Entsprechend interpretiert das Gehirn diese Informationen und kommt schneller zu einer Schmerzantwort. Wir sollten daher aufhören, unseren Kunden und Patienten Angst zu machen, und Haltungsabweichungen als etwas völlig Normales betrachten.

POSITIVE BOTSCHAFTEN

Hilfreich sind auch positive Botschaften wie, dass wir über einen lebenden Organismus verfügen, der sich an die unterschiedlichsten Belastungen anpassen kann. Beim Krafttraining leuchtet das intuitiv ein. Wird dann ein Muskel in einer bestimmten Haltung nicht einfach ausdauernder? Unsere Muskeln signalisieren uns durch Brennen oder Schmerzen, wenn sie ermüden. Dies tritt beispielsweise ein, wenn du eine Flasche Wasser mit ausgestrecktem Arm über lange Zeit hältst – oder wenn du den ganzen Tag krumm sitzt. Dann genügen aber ein paar Positionswechsel und ein paar Minuten Bewegung, um die volle Beweglichkeit zu erhalten – verkürzen tut nichts (Williams 1990).

FAZIT

Unterschiedliche Haltungen sind also kein Grund zur Sorge. Haltung ist vielmehr Ausdruck des Lebens und spiegelt wider, was wir häufig tun, denken und fühlen. Kampfsportler haben eher einen Flachrücken, Sprinter eher ein Hohlkreuz, selbstbewusste Menschen stehen meist aufrecht, während sich depressive Menschen eher klein und rund machen. Kann es bei bestimmten Schmerzproblematiken Sinn machen, eine sensible Haltung vorübergehend zu vermeiden? Absolut! Ist die problematische Haltung die Ursache? Wahrscheinlich nicht. Viel wichtiger als die perfekte Haltung ist abwechslungsreiche Bewegung. Und: Die nächste Haltung ist immer die bessere!

Literatur auf Anfrage beim Autor erhältlich.

FELIX KADE

Der Autor arbeitet als Personal Trainer in Leipzig sowie als Dozent an der Akademie für Sport und Gesundheit und am SBV. Sein Ansatz orientiert sich an aktuellen Erkenntnissen der Neuround Schmerzwissenschaft.
www.felixkade.de

Fotos: Dirima – stock.adobe.com, Felix Kade


Diesen sowie weitere Artikel findest du in der TRAINER Ausgabe 06|2020

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