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Medical Fitness

Medical Fitness

Herausforderungen und Chancen

Medical Fitness schlägt eine wichtige Brücke zwischen Medizin, Gesundheit und Fitness. Es wird Zeit, all diese Bereiche als Selbstverständlichkeit in den Alltag einzubinden. Luise Walther gibt Einblicke in das Potenzial einer Zusammenarbeit und eines Austauschs.

Corona hat in unserem Leben wie ein Beschleuniger gewirkt und uns gezeigt, wie schnell sich das Nutzerverhalten ändern kann. Gesundheit und Wohlbefinden haben stark an Bedeutung gewonnen; damit verwischen auch die Grenzen zwischen Gesundheit, Prävention und Fitness immer mehr. Technologien aus medizinischen Bereichen werden in den Fitnesssektor übernommen, zahlreiche Apps versuchen, Gesundheit und Fitness in die Wohnzimmer der Kunden zu bringen, und technologische Produkte wie Fitnessspiegel und Bewegungstracker versprechen eine bessere Bewegungsausführung. Was bei all diesen Innovationen oft übersehen wird: Es kommt zu einer Nischenbildung. Einzelne Bereiche werden technisch optimiert, wobei jedoch die Ganzheitlichkeit auf der Strecke bleibt. Bewegungssensoren vermitteln den Nutzern ein direktes Feedback über die Bewegungsausführung und schlagen Korrekturen vor. Damit geht oftmals das eigene so wichtige Körperempfinden verloren und der Fokus auf das externe Feedback lässt die innere Wahrnehmung und Korrektur noch mehr verblassen. Noch fehlt hier der Fokus auf die Wahrnehmung und das eigene Körpergefühl. Auch hier spiegelt sich im Moment noch vorwiegend das biomechanische Modell wider – wenn auch digitalisiert und hochtechnisiert mit Gamification-Ansätzen. Dennoch fehlen die neurozentrierte Perspektive und der Blick auf die neuronalen bewegungssteuernden Elemente des Menschen. Das ist besonders wichtig für nach wie vor unterversorgte Marktsegmente, die von bisherigen Angeboten kaum tangiert werden.

DAS MARKTSEGMENT MEDICAL FITNESS

Kunden, die sich nicht als krank empfinden, aber Verspannungen haben, hin und wieder Schmerzen verspüren und sich fragen, wie sie diese lösen können, fühlen sich weder ausschließlich von medizinischen Themen angesprochen noch von Fitnessangeboten. Das Thema „Schmerz“ ist eine große Last für Millionen von Menschen. Laut der deutschen Schmerzgesellschaft leiden 8–16 Millionen Deutsche unter chronischen Schmerzen, bei 10 Prozent der Gesamtbevölkerung sind Rückenschmerzen die häufigsten Beschwerden.
Wenn man sich bewusst macht, dass fast die Hälfte der Patienten mit chronischen Rückenschmerzen über ein Jahr auf eine Diagnose warten muss, bekommt man eine Ahnung von der Lücke, die hier aktuell in der Versorgung klafft. Fast jeder fünfte Patient, der unter chronischen Schmerzen leidet, fühlt sich nicht angemessen behandelt. Auch die wirtschaftlichen Folgen sind erschreckend: Jeder zweite Patient gibt an, dass die Schmerzen Einfluss auf seine Arbeitsleistung hätten. Rückenschmerzen sind der häufigste Grund für eine Arbeitsunfähigkeit in Deutschland; ca. ein Viertel der Krankheitstage ist zurückzuführen auf Beschwerden in Wirbelsäule und Rücken.
Was also muss getan werden, damit sich die Themen „Prävention und Fitness“ und „Rehabilitation“ im Gesundheitsbereich durchsetzen? Bei akuten Notfällen und im postoperativen Bereich, also im Bereich der Schnittstelle zwischen OP und Rehabilitation bzw. Anschlussheilbehandlung, funktioniert die Zusammenarbeit bereits sehr gut. Hier gibt es sehr gute Konzepte und auch die Digitalisierung weitet sich hier stark aus. 80 Prozent der Menschen fallen jedoch gar nicht in diesen Bereich. Sie haben eher diffuse Symptome wie Schulter-Nacken-Schmerzen, Rückenschmerzen oder Knieprobleme. Dazu Dr. Veit Nordmeyer, Orthopäde und Oberarzt der Klinischen Abteilung für Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Tulln, Österreich: „Die Lücke zwischen Medizin und Fitness wird im Moment vor allem vom Schmerz bestimmt. Denn wer keine Schmerzen hat, geht üblicherweise nicht zum Arzt. Der Arzt in seiner Rolle wird – noch – nicht als Partner für Prävention gesehen; dies hat seinen Ursprung in der Ausbildung der Mediziner.“
Genau hier muss man also ansetzen, die Rollenverständnisse erweitern sowie den Dialog und die Schnittstellen ausweiten. Das klare Ziel sollte hier die „Clarity of Vision“ sein: Welcher Mehrwert bietet sich den Patienten und Kunden? Auch sollte der finanzielle Aspekt berücksichtigt werden. Idealerweise sollte es sich hierbei um eine Win-win-Situation handeln. Denn die Kosten für die Gesundheitsversorgung steigen und es müssen kreative Ansätze gesucht werden. Es geht darum, die richtige Zeit und den richtigen Rahmen zu finden, um kritische Punkte anzusprechen, sich genug Zeit zu nehmen und zuzuhören, statt Standardlösungen zu präsentieren. Es geht darum, Kunden und Patienten zu helfen, ihre Probleme zu lösen – und nicht darum, eigene Lösungen zu verkaufen, die nicht transferierbar in deren Realität sind. Der „Proof of Concept“ vieler Produkte wird erfolgreich umgesetzt. Es gibt viele sehr gute Apps und Dienstleistungsansätze auf dem Markt. Die Herausforderung ist, daraus langfristige Lösungen für Kunden zu schaffen.

DIE RICHTIGE LÖSUNG ZUR RICHTIGEN ZEIT

Es gibt viele gute Ansätze, z. B. konnektive Inhalatoren zur Asthmabehandlung, automatisierte Insulinspritzen für Diabetes-Erkrankte, Virtual-Reality-Brillen für Demenzkranke. Und auch bei der Digitalisierung gibt es große Fortschritte. Digitale Gesundheitsanwendungen, die „Apps auf Rezept“, sind in Deutschland seit Kurzem durch die Krankenkasse erstattungsfähig. Online-Kurse bei Panikstörungen, digitale Therapiebegleiter bei Brustkrebs, therapeutisches Training für zu Hause: Bisher erreichen all diese Angebote den Massenmarkt jedoch nicht. Selbst wenn man den Markteintritt schafft und sogar für die Rückerstattung via Krankenkasse zugelassen ist – die Herausforderung ist, die richtigen Zielgruppen zu erreichen. Und wenn dann die richtige Zielgruppe erreicht und das Produkt zugestellt wurde: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Produkt so regelmäßig genutzt wird, um einen tatsächlichen Nutzen zu haben? Bei vielen Anbietern zeigen die Produkte in klinischen Tests zwar, dass sie funktionieren – allerdings setzen sie sich in der realen Welt bisweilen noch nicht durch.

HÜRDEN, DIE ZU ÜBERWINDEN SIND

Das Gesundheitssystem ist relativ starr und es bedarf viel Zeit und Geld, um in diesem Umfeld Produkte zu entwickeln. Integration ist aufwendig und Schnittstellen sind schwer zu implementieren. Es fehlt eine offene, integrative und effektive Struktur. Das Problem ist hierbei auch immer wieder der Wissensstand und die Informationssituation. Viele Kunden und Patienten wissen einfach nicht, dass es bereits Lösungen für ihre Probleme gibt. Der Informationsflut auf der einen Seite stehen Zugangsbarrieren, Kommunikationsdefizite und Missverständnisse auf der anderen Seite gegenüber. Auch wenn Rückerstattungen über Krankenkassen mittlerweile möglich sind – die richtigen Leute zu erreichen ist schwer. Die Vorabkosten, die bezahlt werden müssen, bis die Krankenkassen rückerstatten, sind bereits für viele, die es sich finanziell nicht leisten können, eine Barriere.

DAS A UND O IN DER PRAKTISCHEN UMSETZUNG

Solche Angebote, die nötige Transparenz und das Vertrauen – all das muss erst geschaffen werden. Die Rolle der Gesundheit muss allen bewusst sein und das Wissen darüber muss implementiert werden. Welche App oder welcher Anbieter sich am Ende durchsetzt, ist irrelevant. Wichtig ist, dass es ein breites Angebot gibt. Existieren aktuell viele kleine Player im Bereich der Fitness- und Gesundheits-Apps, kann oder sollte man über Bündelungen nachdenken. Und das wohl Wichtigste ist der Austausch und die Kommunikation zwischen den einzelnen Bereichen. Die Weitergabe und der kritische Austausch über Behandlungskonzepte, Therapie- und Trainingsansätze sind unabdingbar. Nur so kann man Gesundheit, Wohlbefinden und Fitness langfristig zusammenbringen.
Auch hier sind wir auf dem richtigen Weg, wie Dr. Nordmeyer erklärt: „Zunehmend setzt sich das Dogma der Prävention durch; dies hat seinen Ursprung in der Sportmedizin. Diese wird zunehmend herangezogen, um den Menschen zu helfen, welche eine Verbesserung der eigenen Fitness erreichen möchten. Was jedoch nicht ausreichend berücksichtigt wird, ist die individuelle neuronale Leistungsfähigkeit. Das Erlernen der sportartspezifischen Bewegungsmuster und eine Leistungssteigerung über die Verbesserung der muskulären Steuerung werden erst seit Kurzem mit Neuroathletik als eigener Subspezifizierung angeboten. Dabei ist die Neuroathletik als generalisierte, differenzierte Schnittstelle zwischen Medizin und Fitness geeignet, eben diese Lücke zu füllen, denn sie vereint die Veränderung von Schmerzen und Schmerzwahrnehmung und die körperliche wie geistige Leistungssteigerung symbiotisch.“

BEDEUTENDE FAKTOREN FÜR DIE ZUKUNFT

• Patienten- und Kundenerfahrung sowie Gamification. Hier wird die Digitalisierung eine große Rolle spielen. Schon jetzt setzen sich spielerische Ansätze auch in vielen Therapieansätzen immer mehr durch. Gerade auch durch die Schnittstellen zur Psychologie werden spielerische Fähigkeiten wieder zentraler Bestandteil, um Motivation und Kontinuität beizubehalten.
• Patienten- und Kundenbefähigung. Statt Standardbehandlungen und medikamentöser Verschreibung geht es immer mehr darum, Zusammenhänge zu erklären. Denn nur wer seinen Körper versteht, kann auch smart darauf reagieren. Dafür benötigen wir an den unterschiedlichen Stellen gute und klare Kommunikation, Ärzte, die sich entsprechend Zeit nehmen zur Aufklärung, und Therapeuten, die diese Erklärungen aufgreifen und vertiefen. Im Training sollten dann eben diese Zusammenhänge weiterentwickelt und auf die Trainingsebene transferiert werden. Es ist also auch ein Wandel von passiver zu aktiver Therapie unerlässlich, um Patienten zu befähigen, im Alltag wieder aktiv zu werden und sich nicht von passiven Behandlungsansätzen abhängig zu machen.
• Personalisierte Kommunikation und gemeinsame Entscheidungsfindung. Statt über die Patienten und Kunden zu sprechen, sollte man mit ihnen kommunizieren. Das aktive Einbinden in Therapie und Training durch gemeinsame Zielsetzung und Überprüfung eben dieser schafft ein besseres Commitment.
• Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens. Der Paradigmenwechsel vom biomechanischen hin zum neurozentrierten Ansatz schafft einen holistischen Blick auf Gesundheit und Wohlbefinden. Dafür bedarf es der interdisziplinären Kommunikation und Zusammenarbeit. Allzu oft haben im Praxisalltag Patienten mit Rückenschmerzen eben nicht „nur Rücken“, sondern multifaktorielle gesundheitliche Probleme. Diese kann man im Austausch mit Experten über Blutanalysen, internistische Abklärung, neurologische Befundung oder auch Ernährungsberatung und psychologische Betreuung langfristig beheben.
• Wertebasiertes Training und Therapie. All das in Einklang zu bringen, beruht meistens auf einem wertebasierten Verhalten. Alle beteiligten Akteure sollten nach denselben Werten ihre Entscheidungen treffen und diese entsprechend der gemeinsamen Vision umsetzen. So gelingt auch die Kommunikation mit Patienten und Kunden besser. Unter Berücksichtigung der gesetzlichen Richtlinien und gegebenenfalls abrechnungstechnischer Details kann so das optimale Ergebnis gemeinsam erarbeitet werden.
Direkte Kommunikation auf Augenhöhe schließt die Lücke zwischen Medizin und Fitness. So lernt man, seinen Körper wieder zu verstehen und ihm zu vertrauen. Spielerische Ansätze durch Koordinationstabellen oder Entscheidungsübersichten machen das Training abwechslungsreicher und schaffen einen Transfer in den Alltag. Die ganzheitliche Betrachtung der menschlichen Leistungsfähigkeit bindet Atmung, Augen, Gleichgewicht und Bewegung mit ein und integriert alle Systeme miteinander. So kommt bei Rückenschmerzen nicht nur der Rücken in den Trainingsschwerpunkt, sondern z. B. auch die Blickstabilisierung, die bei der vielen Bildschirmarbeit notwendig ist. Was bringt das aus Sicht eines Mediziners? „In der orthopädisch-traumatologischen Praxis zeigt sich, dass rein körperliches Training eine große Zahl von Patienten in ihrer ‚Bewegungsintelligenz‘, also im Verstehen und Durchführen komplexer Bewegungsabläufe, überfordert. Besonders ältere, sturzgefährdete oder demente Patienten benötigen einen Ansatz, der ihre körperlichen wie geistigen Fähigkeiten berücksichtigt insbesondere in Hinsicht auf die Verarbeitung visueller und auditiver Reize. Hier schließt die Neuroathletik eine Lücke, da sowohl die neuronalen/kognitiven Fähigkeiten als auch die körperlichen Fähigkeiten beübt und trainiert werden können. Hierbei kann in integrativer, innovativer Art und Weise die Lücke zwischen kognitivem und körperlichem Training geschlossen werden. Es eröffnet sich ein ‚bio-psycho- sozio-neurologisches Modell der Salutogenese‘, das zu einer Verbesserung der gesamten Lebensqualität genutzt werden kann“, erläutert Dr. Nordmeyer.

AUSBLICK: GEDULD, MUT UND INNOVATION

Digitalisierung, Big Data, sich verändernde Verbraucherpräferenzen und Kostenstrukturen sind nur einige der vielen komplexen Faktoren, die die Chancen und Herausforderungen der Zukunft bestimmen werden. Treibende Kraft werden Technologien sein, die es den Menschen ermöglichen, ein gesünderes Leben zu führen. Schaffen wir eine Branche, die die Menschen in die Lage versetzt, eigenverantwortlich bewusst, gesund und entspannt zu leben. Dafür braucht es den Austausch und die Zusammenarbeit, um endlich die Lücke zwischen Medizin und Fitness zu schließen. Was in kleinen Kreisen schon funktioniert, kann sich ebenso für die breite Masse etablieren.


LUISE WALTHER
Die Berliner Personal Trainerin arbeitet an der Schnittstelle Medizin-Fitness. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Individualisierung und Professionalisierung von Reha- und Trainingsprozessen mit Fokus auf Schmerzreduzierung und Bewegungsoptimierung ihrer Kunden.
www.neurozentriertestraining. de


Foto: ag visuell – stock.adobe.com, Luise Walther


Diesen sowie weitere Artikel findest du in der TRAINER Ausgabe 06|2021

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