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Mobilität versus Flexibilität

Mobilität versus Flexibilität

Wie finde ich die optimalen Übungen?

Um für Kunden die passenden Übungen zu finden, sollten Trainer zuerst herausfinden, ob ein Mobilitäts-, ein Flexibilitäts- oder ein Tonusproblem vorliegt. Worin sich diese Probleme unterscheiden und wie du sie erkennst, erläutern Stefan Orth und Vanessa Maurer.

Beweglichkeit kann als „die Fähigkeit, Bewegungen und Haltungen über die anatomisch mögliche Bewegungsreichweite der beteiligten Gelenke und Muskeln ausführen bzw. einnehmen zu können und dies bei einem annehmbaren, nicht schmerzhaften Dehngefühl und gegen einen submaximalen, nicht hinderlichen Dehnwiderstand.“ definiert werden (Klee, 2017, S. 225). Mit dem Begriff „Beweglichkeit“ werden oftmals Bewegungen wie ein Spagat oder die Fähigkeit, in der Vorbeuge die Zehen mit den Händen berühren zu können, verknüpft. Das ist an sich nicht falsch. Allerdings ist es wichtig zu beachten, dass sich die aktive und die passive Beweglichkeit voneinander unterscheiden. Die passive Beweglichkeit, auch Flexibilität genannt, bezeichnet die Beweglichkeit ohne Muskelspannung. Unter passiver Beweglichkeit versteht man z. B., in einem Spagat zu sitzen. In dieser Position wird keine Kraft benötigt – es kommt lediglich auf die Länge des Muskels und auf die vorhandene Muskelspannung an.

AKTIVE VERSUS PASSIVE BEWEGLICHKEIT

Die aktive Beweglichkeit – auch als Mobilität bezeichnet – kombiniert die Fähigkeiten Kraft und Flexibilität. Greifen wir das Beispiel Spagat auf: Ein im Stehen ausgeführter Spagat ist eine Mobilitätsleistung, da kontinuierlich eine aktive Muskelspannung gehalten werden muss. Es gibt Sportarten, in denen eine globale Mobilität gefordert ist, z. B. beim Turnen, Ballett oder bei der rhythmischen Sportgymnastik. Andererseits gibt es einige Sportarten, in denen sich die Mobilität auf wenige Extremitäten beschränkt, wie z. B. beim Speerwerfen. Ein Speerwerfer benötigt für seine Ausholbewegung ein hohes Maß an Mobilität im Rumpf und Schultergürtel. Hier ist die Mobilität hauptsächlich einseitig gefordert. Da aus dieser extremen Ausholbewegung eine hohe Beschleunigung und Kraftentwicklung resultieren muss, kann hier nur von Mobilität und nicht von Flexibilität gesprochen werden. Wenn wir also im Sport von Beweglichkeit sprechen, ist fast ausschließlich die Mobilität gemeint.

MUSKELTONUS

Wenn wir uns mit Beweglichkeit und Beweglichkeitstraining beschäftigen, kommen wir nicht umhin, uns auch mit dem zentralen Nervensystem (ZNS) und seinen Wechselwirkungen mit dem Muskel-Skelett-System zu beschäftigen. Dabei ist es unumgänglich, zunächst das Wort „Tonus“ genauer unter die Lupe zu nehmen. Latash und Zatsiorsky beschreiben in ihrem Buch „Biomechanics and Motor Control“ (2016) den Tonus als einen nur unzureichend definierten Begriff. Er beschreibt den gefühlten Widerstand gegenüber einer Bewegung, gegenüber dem Widerstand, den man bei einer gesunden Person erwartet (Normotonus). Aber was bedeutet das überhaupt und warum ist es relevant? Wir wollen keine neue Definition des Wortes Tonus liefern, allerdings müssen wir diesen Begriff hier verwenden und daher kurz erklären. Hier soll es reichen, den Tonus als die Muskelspannung anzusehen, die in einer jeweiligen Situation herrscht. Dabei spielt es keine Rolle, ob eine Person entspannt auf dem Rücken liegt oder kurz vor dem Start eines 100-Meter-Sprints angespannt in einem Startblock kniet. Beide Personen haben einen gewissen Tonus, der jeweils der momentanen Situation angepasst ist bzw. darauf ausgerichtet ist, für bevorstehende Aufgaben bereit zu sein. Natürlich ist bei beiden Personen der Tonus unterschiedlich hoch. Er hängt zudem von mehreren Faktoren ab. Betrachten wir die Person, die entspannt auf dem Rücken liegt: Hier wird der Tonus erheblich niedriger sein als bei der Person im Startblock. Das liegt daran, dass unser Tonus, abgesehen von rein muskulären Komponenten wie z. B. Titin, durch unser ZNS geregelt wird. Dabei ist unser Tonus immer kontextabhängig, also bezogen auf die momentane Interaktion mit der Umwelt und der Situation, in der ich mich im Moment befinde.
Für unser ZNS sind hier einige Faktoren wichtig: Fühle ich mich in der Situation, in der ich mich befinde, wohl oder bedroht? Ist meine Erfahrung in dieser Situation positiv oder negativ? Kenne ich die Situation, in der ich mich befinde, oder ist sie komplett neu für mich? Einige Situationen kennen wir alle bestimmt auch aus dem Alltag: Beim Zahnarzt liege ich mit Sicherheit mit einem höheren Tonus auf der Liege als zu Hause auf dem Sofa.

MOBILITÄTSPROBLEME ERKENNEN

Gerade weil unser Tonus kontextabhängig ist und so unsere Flexibilität und Mobilität beeinflusst, sollten wir diesen Faktor in das Training miteinbeziehen. Das bedeutet: Wir müssen für ein Training, das die Mobilität verbessern soll, möglichst einen Kontext schaffen, der nahe an dem Kontext liegt, in dem diese Mobilität benötigt wird. Da die Mobilität von der Flexibilität abhängt, muss zuerst die nötige Flexibilität erarbeitet werden. Aus dieser kann dann die Mobilität resultieren.
Hier ein Beispiel: Ein Kunde kommt zu uns, um die Kniebeuge erlernen. Dabei stellen wir fest, dass er es nicht schafft, mit dem Becken unter die 90 Grad zu kommen, im Rücken rund wird und beinahe nach hinten umkippt. An dieser Stelle würde mancher Trainer schon beginnen aufzuzählen, was alles als Ursache für das Verfehlen des Bewegungsziels infrage kommen kann: Zu unbewegliche Sprunggelenke, zu kurze Beinbeuger, eine zu unbewegliche Brustwirbelsäule … Doch lasse ich diesen Kunden nun eine Kniebeuge ausführen, bei der er sich frontal irgendwo festhalten kann und sich sozusagen in die Kniebeuge setzen kann, ohne eine sehr hohe muskuläre Aktivität aufbauen zu müssen, und dieser nun ohne die zuvor genannten „Fehler“ perfekt in der tiefen Kniebeuge sitzt: Was sagt das dann über die zuvor getroffenen Annahmen aus? Dann sind offenbar nicht die Sprunggelenke das Problem, sondern das Spannungs-Längen- Verhältnis der Wadenmuskulatur. Ebenso ist nicht der Beinbeuger per se zu kurz, sondern einfach nicht in der Lage, die nötige Spannung bei geforderter Muskellänge aufrechtzuerhalten. Das Gleiche trifft auch auf den Rückenstrecker zu; hier ist schlicht die geforderte Kraft in Kombination mit der gewünschten Position nicht realisierbar.
Dieses Beispiel zeigt, dass es oft auf einen Konflikt zwischen Muskelspannung und Muskellänge hinausläuft. Mit zunehmender Muskellänge wird die Überdeckung von Aktin und Myosin in den Sarkomeren immer schlechter, wodurch es immer schwieriger wird, eine geforderte Spannung bei zunehmender Muskellänge zu generieren. Dies ist dann ein Mobilitätsproblem und sollte auch als solches angegangen werden.

MOBILITÄTSTRAINING IN DER PRAXIS

Fähigkeiten lassen sich nur dann verbessern, wenn die angestrebten Ziele so genau wie möglich definiert werden. Im Bereich Beweglichkeit ist das eine Herausforderung, da Mobilität nicht objektiv messbar ist. Ein oft genanntes Ziel von Trainierenden, die sich an Langhanteln heranwagen, ist eine tiefe Kniebeuge. Wir definieren mit dem Kunden nun die Tiefe auf einen Kniewinkel unter 90 Grad. Werden Kniebeugen komplett neu erlernt, braucht man in der Regel kein Mobilitätstraining, da sich dieses durch regelmäßige Kniebeugen automatisch entwickelt, wenn immer so tief wie möglich gebeugt wird. Wird die Tiefe der Kniebeuge aber durch eine zu geringe Muskellänge z. B. in der ischiocruralen Muskulatur oder dem Rückenstrecker limitiert, könnte man hier mit Mobilitätstraining ansetzen.

KNIEBEUGENKEIL ODER GOBLET SQUATS

Für dieses Mobilitätstraining könnte ich dem Kunden entweder einen Kniebeugenkeil geben oder ihn zu Anfang Goblet-Kniebeugen (mit einer Kettlebell vor der Brust) ausführen lassen. Beides führt zu einer Gewichtsverlagerung, die es der beteiligten Muskulatur ermöglicht, die Spannung unter geforderter Länge noch zu produzieren. Im weiteren Verkauf kann dann der Keil immer kleiner gewählt bzw. das Gewicht immer weiter reduziert werden; damit nähert sich der Kunde immer weiter der optimalen Position an. Im Fall der ischiocruralen Muskulatur, der Oberschenkelrückseite, eignet sich rumänisches Kreuzheben sehr gut. Durch die statische Position der Beine kommt es bei der Exzentrik zu einem starken Spannungsreiz auf die Beinbeuger, während diese immer mehr an Länge zunehmen, solange die exzentrische Bewegung anhält. Dies führt dazu, dass das zentrale Nervensystem die intramuskuläre Koordination anpasst und dadurch mehr Mobilität in den gewünschten Zielbewegungen entsteht. Voraussetzung für die Entscheidung, welche Übung für den Kunden nun die beste ist, ist aber immer, dass der Trainer in der Lage ist, zu analysieren, ob ein Mobilitäts-, ein Flexibilitäts- oder ein Tonusproblem besteht.

MUSKELLÄNGENTRAINING

Eine weitere Methode, um die Mobilität eines Kunden zu verbessern und vor allem dauerhaft zu festigen ist das Muskellängentraining. Hierbei werden anders als beim Hypertrophietraining die Sarkomere nicht parallel geschaltet, sondern in Reihen; dadurch nimmt der Muskel physiologisch an Länge zu. Stellt man nun fest, dass ein Muskellängentraining bei einem Kunden langfristig sinnvoll wäre, so sollte dies optimalerweise im Bereich der Hypertrophie trainiert werden. In vielen Lehrbüchern wird beschrieben, dass eine Hypertrophie zwischen 8 und 12 Wiederholungen und mit 60 bis 75 Prozent Intensität stattfindet; das ist aber nicht korrekt. Eine Querschnittsvergrößerung der Muskulatur kann in nahezu allen Wiederholungsbereichen erzielt werden – entscheidend sind die Intensität, das Volumen, die Frequenz, die individuelle Muskelfaserverteilung und die Genetik.

GROßES BEWEGUNGSAUSMAß

Beim Muskellängentraining sollten Übungen gewählt werden, die ein großes Bewegungsausmaß und eine lange exzentrische Phase erfordern, wie z. B. Butterfly, rumänisches Kreuzheben, Good Mornings oder Bulgarian Split Squats. Durch die große Range of motion (ROM) und die starke Vordehnung, die bei diesen Übungen auf die Muskulatur wirkt, empfiehlt es sich, dieses Training in einem Wiederholungsbereich zwischen 7 und 15 sowie einer Intensität von 60 bis 75 Prozent zu trainieren. Sehr hohe Intensitäten sind hier nicht vonnöten, da durch intramuskuläre Mikrotraumata ein ausreichender Hyperthrophiereiz entstehen kann.


VANESSA MAURER
Die Sportwissenschaftlerin, Ernährungsberaterin arbeitet als Dozentin bei der IST-Hochschule und ist Inhaberin der Sport Science School
www.sportscienceschool.de

STEFAN ORTH
Der Sportphysiotherapeut und Powerlifter ist Inhaber der der Physiotherapie-Praxis Bestphysis in Albstadt sowie der Sport Science School.
www.bestphysis.eu


Fotos: video image guy – stock.adobe.com


Diesen sowie weitere Artikel findest du in der TRAINER Ausgabe 03|2021

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