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Warum essen wir anders, als wir es uns vornehmen?

Warum essen wir anders, als wir es uns vornehmen?

Zwischen Ratio und Emotionen

So manch einem Ernährungsmissionär, der sich voller Engagement und Motivation mit dem Thema der gesunden Ernährung intensiv auseinandergesetzt hat, sämtliches Wissen aufgesogen hat und voller Tatendrang seinem meist abnehmwilligen Kunden oder Patienten einen durchdachten Ernährungsplan präsentiert hatte, wurde schon der Wind gehörig aus den Segeln genommen, wenn Besagter widerwillig zugibt, er habe sich doch nicht so ganz an den besprochenen Plan gehalten…

Warum zahlen die Menschen für teuren Rat, den sie dann einfach nicht einhalten? Man denkt sich es liegt vielleicht an der Person und lässt sich zunächst nicht beirren, denn es gibt keinen wissenschaftlichen Zweifel an der messbaren Kalorienzufuhr oder der Wirkung der angepriesenen Lebensmittel. Doch leider bleibt es nicht bei diesem Einzelfall, am Ende knickt nahezu jeder Kunde ein und nimmt das verlorene Gewicht wieder zu.

Immer wieder das gleiche Schema: wir klären auf, motivieren, ziehen alle Register und der Kunde nickt, versteht, verlässt uns siegessicher. Er kommt wieder und nach ein paar Wochen können wir dankbar sein, wenn er uns vertraut und seine Regelbrüche enttäuscht und beschämt beichtet. Allmählich müssen wir uns fragen, ob es wirklich am fehlenden Wissen mangelt, das die Menschen bei ihrem Ziel scheitern lässt. Oder ist es zu viel Wissen?

Heutzutage verfügen wir vielleicht über eine Wissensflut und da ist es sicher verwirrend, sich durch den teils widersprüchlichen Ernährungsdschungel zu kämpfen, dafür hat niemand mehr Zeit. Deshalb kommen viele Abnehmgescheiterte zu uns in der Hoffnung, wir würden ihren Herzenswunsch mit einem individuellen Masterplan realisieren. Jetzt kann man sagen da liegt der erste Fehler und mit dem Finger auf den Kunden zeigen: er übernimmt nicht selbst die Verantwortung, er erwartet dass wir für ihn abnehmen und gesünder werden. Doch ist es wirklich so einfach, kann man sagen dass Klienten, die in ihrem Job massive Verantwortung tragen, nicht kompetent seien zu essen? Meines Erachtens nach sollten wir uns mit der Frage beschäftigen, warum es soweit gekommen ist, dass Menschen überfordert sind und sich selbst aufgeben, wenn es um die Themen Gesundheit, Ernährung und Bewegung geht.



 

Die Funktion des Essens wird pervertiert

Hierzu ein kurzer Rückblick in die noch junge Ernährungspsychologie, deren Bedarf nach dem Weltwirtschaftsboom in den 1960ern enorm gestiegen ist. Dieser brachte uns das gustatorische Schlaraffenland, eine Überflutung von Geschmäckern und immer leichter verfügbaren Nahrungsmittel. Die Wirtschaft florierte dank Werbepsychologen, die unter Berücksichtigung intrinsischer Motivationen (Image, Zugehörigkeit, Geborgenheit, Freiheit, Effizienz, Geschmackserlebnis, Abenteuer, Spannung) wirklich alle Zielgruppen abholten.

Die Nahrungsmittelhersteller wurden immer kreativer in der Herstellung der Nahrung, da sie Preise senken und geschmacklich interessantere Nahrungsmittel (an dieser Stelle möchte ich diese Produkte von Lebensmitteln differenzieren) anbieten wollten. Zunächst veränderten die Industrienationen bereitwillig und vielleicht schon suchtgetrieben ihr Essverhalten und die Folgen waren im wahrsten Sinne schwerwiegend: Die Volkskrankheiten trieben die Kosten der Krankenkassen und Gesundheitssektoren in die Höhe. Schnell hatte man den Feind gefunden: das Übergewicht war schuld.

Und am Übergewicht war die Nahrungsmittelzufuhr schuld.

 

Kalorienzählen führt selten zu einer dauerhaften

Kalorienzählen führt selten zu einer dauerhaften Gewichtsreduktion. Foto: Martinina/Shutterstock.com

Kalorienbilanz als Lösungsansatz

Die Ernährungswissenschaftler wurden nun auserkoren, nach Lösungen für das Problem zu suchen. Relativ schnell konnten sie die Ursache in der exothermen Reaktion der unterschiedlichen Lebens- und Nahrungsmittel finden, indem sie diese anzündeten und die entstandene Energie in kcal angaben. So konnte man genau berechnen, wieviel kcal der Körper im Grundzustand verbrennt und wieviel Puffer man noch hat, wenn man sich ausreichend bewegt, bevor man zunimmt.

Der entstandene Bewegungsmangel wurde sogleich mit ins Boot geholt, um den Menschen im Kampf gegen das Übergewicht neben der kontrollierten Nahrungsmittelzufuhr ein zweites Kontrollprinzip an die Hand zu geben. Dass Sport nicht nur die Muskelmasse und damit den Grundumsatz erhöht, sondern zudem noch zahlreiche positive Effekte auf das Hormonsystem, die gesamte Gesundheit und eine Veränderung im Lebensstil bewirkt, macht ihn nach wie vor zu einem direkten und indirekten Verbündeten – und verschafft uns in der Fitnessbranche Tätigen nicht nur einen wirtschaftlichen Nutzen, sondern zudem eine altruistische und motivierende Sinnhaftigkeit.

Dennoch wird er erfahrungsgemäß nicht bei allen Kunden ausreichen, um diese von ihren Lasten endgültig und erfolgreich zu befreien.

 

Der Jojo-Effekt schlägt zu

Wie sieht nun die geeignete Ernährung aus? Nach zahlreichen Studien und Maßnahmen zur Regulation des Gewichts und zur Gesunderhaltung (oft Klinikaufenthalte, Kuren, aber auch Ernährungsberatungen) mussten wir feststellen, dass kaum einer das verlorene Gewicht dauerhaft halten konnte. Viel erschreckender und verstörender waren Studien, die bekannt gaben, dass die Teilnehmer der Interventionen im Anschluss sogar noch mehr zunahmen.

Der gefürchtete Jojo-Effekt wurde immer signifikanter. Man forschte weiter am Stoffwechsel und weiteren physiologischen, biologischen und endokrinologischen Systemen, um eine befriedigende Antwort zu erhalten. Dies war die Geburtsstunde der Ernährungspsychologie, die endlich die richtigen Fragen stellte:
– Warum fangen wir an zu essen?
– Warum essen wir das, was wir essen?
– Warum hören wir auf zu essen?
– Wie essen wir?

 

Wo soll es hingehen? Wem sein Ernährungsverhalten bewusst ist, kann dies besser entscheiden. Foto: Lightspring/Shutterstock.com

Wo soll es hingehen? Wem sein Ernährungsverhalten bewusst ist, kann dies besser entscheiden. Foto: Lightspring/Shutterstock.com

Beweislage noch schwierig

Die Disziplin der Ernährungspsychologie hat mit einer wissenschaftlich fundierten und messbaren Beweislage zu kämpfen, um in allen Bereichen anerkannt zu werden. Es wurde beispielsweise Ratten die Speiseröhre auf den Rücken operiert, um die für die Sättigung zuständigen Dehnungsmechanismen des Magens zu eruieren. Auch an Menschen versuchte man, das Ernährungsverhalten isoliert zu erforschen. Hierbei stellt sich jedoch die Frage der Moral und der Aussagekraft: Lässt man beispielsweise einen Probanden zur Beurteilung seines Ernährungsstils ein Protokoll führen, hat man mit dieser Maßnahme bereits eine Verfälschung des tatsächlichen Essens bewirkt, da der Schriftführer bewusster isst. Es wird demnach eine Weile dauern, bis die Ernährungspsychologie auf die allgemeingültigen Antworten stößt.

 

Kunden die richtigen Fragen stellen

Doch ist Warten wirklich das Einzige, was wir in unserem Job tun können? Müssen wir Antworten geben, die jeder befolgt? Ich denke wir müssen viel eher anfangen, unseren Kunden die richtigen Fragen zu stellen, damit sie sich selbst die individuell richtige Lösung aus ihrem Dilemma geben können. Ich sehe ich den Kunden selbst als seinen besten Berater. Ich möchte mich nicht in seine Entscheidungen einmischen, sondern ihm diese bewusster machen. Im Grunde weiß jeder selbst, was gesunde Lebensmittel sind und dass jedes Nahrungsmittel mit einer Werbung mehr Nutzen für den Hersteller abwirft als für den eigenen Körper. Selbstverständlich helfen alle rationalen Erklärungen als Wegbereiter und es ist sicherer, gut fundiertes Wissen zu vermitteln als gefährliches Halbwissen.

 

Bewusstsein als effizientestes Mittel

Doch wenn es uns gelingt, dass nicht nur wir, sondern in erster Linie der Kunde versteht, warum er angefangen hat, quantitativ mehr und qualitativ weniger zu essen, als sein Körper braucht, werden wir ihm die wirklich effizienteste Waffe in die Hand geben: BEWUSSTSEIN. Solange er unterbewusst  angetrieben wird, können wir mit unseren wenigen Prozent Ratio, die unser (Ess)Verhalten mitbestimmt, wenig ausrichten. Der wirklich einzigartige Benefit einer ehrlichen Bewusstmachung des tatsächlichen Verhaltens (ja, der Kunde isst sehr wenig, viel zu wenig, er isst streng, viel zu streng…aber bricht unter den Restriktionen in ein Kompensationsmuster zusammen, ohne zu verstehen warum) liegt darin, dass es dauerhaft ist. Was man einmal ins Bewusstsein geholt hat, verliert die Macht, uns zu kontrollieren. Für immer. Und dann kommen wir mit unserem unglaublichen Fachwissen über den Blutzuckerspiegel und den so wichtigen und gesunden Lebensmitteln und alles wird gut, besser und erfolgreich.

So wie wir mittlerweile Faszien lösen und Bewegungsmuster korrigieren, bevor wir den Menschen belasten, sollten wir auch in der Ernährung umdenken: verklebte Bedürfnisse lösen und Gedankenmuster korrigieren, bevor wir den Menschen mit Restriktionen weiter belasten.

 

Den Artikel findest du im Trainer-Magazin 5/16, geschrieben von,
Sari Rogge | ist Ernährungsberaterin und Entspannungstherapeutin. Sie arbeitet als Personal Trainerin mit integrativen Verfahren im Ernährungs-und Mentalcoaching

 



 

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