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Orthorexie

Orthorexie

Wo verläuft die Grenze zwischen gesunder Ernährung und einer Essstörung?

Um sich optimal mit Nährstoffen und Kalorien zu versorgen, achten gerade Sportler oft sehr genau auf eine perfekte Ernährungsweise. Nele Endner geht der Frage nach, wo die Grenze zwischen einer gesunden Ernährung und einer Essstörung verläuft.

Die Orthorexie (Orthorexia nervosa) wurde 1996 von Steven Bratman als ein „krankhaftes Verlangen nach ‚gesundem‘ Essen“ definiert. Der Begriff leitet sich von dem griechischen Wort „orthos“ ab, was so viel wie „richtig“ oder „korrekt“ bedeutet. Sie wird zwar zu den Essstörungen gezählt, ist aber nicht als eigene Diagnose im ICD-10 Code (International Statistical Classification of Diseases) gelistet. Das liegt daran, dass dieses Krankheitsbild sehr schwer zu diagnostizieren und abzugrenzen ist von einem gesunden Ernährungsverhalten. In Teilen der Literatur wird deshalb eine Unterscheidung zwischen der Orthorexia nervosa und der Healthy orthorexia vorgenommen, wobei die Healthy orthorexia einem gezielt gesunden Essverhalten entspricht und die Orthorexia nervosa das pathologische Essverhalten widerspiegeln soll. Der Übergang ist fließend, was die Unterscheidung zusätzlich erschwert.

ABGRENZUNG

Wichtig ist die Abgrenzung zur Anorexia nervosa („Magersucht“), bei der aufgrund einer sogenannten Körperschemastörung eine gezielte Gewichtsabnahme mit allen Mitteln (Sport, wenig bis keine Nahrung, Medikamente usw.) stattfindet. So, wie nicht alle Menschen, die ihr Gewicht reduzieren oder Übergewicht verhindern wollen, eine Anorexie entwickeln, so sind auch nicht alle, die auf eine gesunde Ernährung achten, von einer Orthorexie betroffen. Das parallele Auftreten beider Erkrankungen ist aber natürlich möglich. Auch ist es nicht selten, dass ein Übergang von dem einen in das andere Krankheitsbild stattfindet. Aber erst wenn das gesunde Essen ins Extreme abrutscht, die Psyche mitbetroffen ist und eine Gefahr für die Gesundheit besteht, ist die Einordnung zur Orthorexia nervosa eindeutig. Häufig wird die Orthorexie aber auch der Kategorie der Zwangsstörungen zugeordnet. Diese zeichnen sich durch zwanghaftes Verhalten oder Zwangsgedanken aus, gegen welche die Betroffenen erfolglos ankämpfen – und sie verspüren eine starke Anspannung und Angst, wenn sie dem Zwang nicht nachgeben. Solche Verhaltensauffälligkeiten können bei der Orthorexia nervosa in Form von Zwangsgedanken oder Handlungen in Bezug auf das Essen ebenfalls beobachtet werden. Diese führen häufig zur Einschränkung des Soziallebens und psychischer Belastung.

STÄNDIGE KONTROLLE

Häufig ist die Orthorexie schon in der Identität der Betroffenen tief verankert – die Ernährung wird das wichtigste Thema im Alltag, um das alle Gedanken kreisen. Sie fühlen sich zum Beispiel unrein oder schmutzig, wenn sie ungesunde Lebensmittel zu sich genommen haben, oder haben Angst, dass sich diese sofort negativ auf die Gesundheit auswirken könnten. Viele Betroffene halten einen täglich festen Zeitplan für ihre Mahlzeiten und eine genaue Struktur der Lebensmittelauswahl ein (z. B. Low Carb, vegetarisch/vegan, Clean Eating). Die ständige Kontrolle über die gesunde Ernährung wird für die Betroffenen mit der Zeit meist immer essenzieller und sie grenzen sich zunehmend von ihrem sozialen Umfeld ab, meiden gemeinsames Essen, bei dem sie die Inhaltsstoffe nicht kontrollieren können, oder haben unmittelbar nach solchen Situationen ein schlechtes Gewissen.

DIAGNOSE

Um der Diagnose näherzukommen, wurden vielfach Fragebögen entwickelt. Auf der Website von Steven Bratman (www.orthorexia.com) findet man seinen aus fünf Fragen bestehenden Selbsttest. Eine Weiterentwicklung mit Übertragung in den deutschsprachigen Raum führte 2014 eine Düsseldorfer Studentin im Rahmen ihrer psychologischen Promotion durch.
Der Cut-off-Wert für das Vorliegen einer Orthorexie wurde bei einem Summenscore des Fragenbogens von 30 Punkten festgelegt. Bei über 30 Punkten gibt es laut diesem Fragebogen also eine starke Tendenz zur Orthorexie. Eine Aussage über die Prävalenz, also die Häufigkeit der Orthorexia nervosa, ist aufgrund der inhomogenen Zuordnung und Diagnose schwer zu treffen. Die Zahlen der Studien mit verschiedenen Populationen (z.B. Student(inn)en der Ernährungswissenschaften) schwanken zwischen 3,1 Prozent (Barthels, 2014) und 57,8 Prozent (Ramacciotti und Kollegen, 2011). In einem 2021 durchgeführten Review zeigten sich für die Erhebung mittels des DOS-Fragebogens Prävalenzen zwischen 2,5 Prozent und 10,5 Prozent in der Gesamtbevölkerung.

PSYCHOLOGISCHE HILFE

Wer sich bei der Beschreibung im Text bereits wiedergefunden und sich schon gesorgt hat, dass eine Orthorexia nervosa vorliegen könnte, der ist nun nach der Beantwortung des Fragebogens vielleicht erleichtert. Denn die Fragen sind dann doch recht eindeutig und während man bei einigen noch „trifft eher zu“ angekreuzt hat, fragt man sich bei anderen, wie man auf Genuss und soziale Interaktion verzichten kann. Solltest du dir aber auch nach diesem Fragebogen unsicher sein oder eine Orthorexie vermuten, ist die Kontaktaufnahme mit einem Psychologen ratsam. Auch wenn es um gesunde Ernährung geht und man an seinem Verhalten eventuell gar nichts ändern möchte, ist es doch ratsam, die Psyche nicht zu vernachlässigen und ein genussvolles Essverhalten wieder zu erlernen.
Bei der Orthorexie und anderen Essstörungen gibt es immer besonders gefährdete Personengruppen. Neben Jugendlichen, jungen Frauen und Berufsgruppen aus dem Bereich Ernährung gehören vor allem Sportler dazu. Dort lassen sich solche Sportarten mit hoher ästhetischer Anforderung oder Gewichtseinfluss hervorheben. Zu ersterer Gruppe zählen zum Beispiel Tanzsport, Turnen, Gymnastik/Akrobatik und Synchronschwimmen. Der zweiten Gruppe sind vor allem Sportarten zuzuordnen, bei denen das Körpergewicht (ggf. im Verhältnis zur Größe) den entscheidenden Faktor für die Gefahr einer Entwicklung einer Essstörung beiträgt. Dazu gehören zum Beispiel Ausdauersport wie Triathlon, Gewichtsklassensport wie Ringen, Boxen und Judo, aber auch Sportarten mit gewünscht niedrigem Körpergewicht wie Skispringen, Pferderennsport (Jockeys) und Klettern.
Jedoch darf man bei der Auflistung nicht die ambitionierten Freizeitsportler vergessen. Wer einen gesunden Lebensstil verfolgt, neigt natürlich dazu, sowohl sportlich aktiv zu sein als auch auf eine vollwertige Ernährung und ein gesundes Körpergewicht zu achten. Nicht selten sehe ich in meinem Alltag in der Sportmedizin Leistungssportler, die sich deutlich weniger Gedanken über ihre Ernährung machen als viele Freizeitsportler. Bei diesen liegt der Fokus eben auf der Gesundheitsförderung und der Krankheitsprävention durch Sport und Ernährung – und nicht auf dem Wettkampf.

VEGETARIER UND DIÄTHALTENDE

In Studien zeigte sich, dass auch Menschen, die bestimmte Lebensmittelkategorien aus ihrer Ernährung ausschließen, im Sinne der DOS eine höhere Punktzahl erreichen und damit ein orthorektisches Essverhalten zeigen. Zum Beispiel würden Vegetarier und Veganer aufgrund ihrer Ernährungsweise, die sie meist zunächst aus ethischer Sicht verfolgen, Frage 2 („Ich habe Ernährungsregeln aufgestellt“) oder Frage 7 („Ich habe das Gefühl, dass ich wegen meiner strengen Ernährungsmaßstäbe von Freunden und Kollegen ausgegrenzt werde“) wahrscheinlich mit „trifft zu“ beantworten, auch wenn die Beweggründe nicht gesundheitlicher Natur sind. Anders ist es bei Diät-praktizierenden Menschen, die mittels einer strengen Ernährungsumstellung ihr Gewicht reduzieren wollen. Auch sie erreichen in dem Fragebogen häufig hohe Punktzahlen und sind bei dauerhafter Durchführung dieser Diät natürlich gefährdet, eine Orthorexie zu entwickeln. Doch meist werden solche Diäten nur zeitbegrenzt durchgeführt, bis ein bestimmtes Ziel erreicht ist. Damit wird noch einmal deutlich, wie schwer es ist, die Diagnose einer Orthorexie zu stellen. Ein Fragebogen kann wichtige Anhaltspunkte liefern, aber die eindeutige Diagnose muss in der Gesamtbetrachtung aller Befunde erfolgen.

„Das schlechte Gewissen entsteht aus der Angst, krank zu werden – und zeigt daher auch nicht selten Parallelen zur Hypochondrie.“

Wie die fünfte Frage im Bogen schon andeutet, versuchen Betroffene von Orthorexia nervosa oft, ihr Umfeld von der vermeintlich gesunden Ernährungsweise zu überzeugen, was häufig die soziale Ausgrenzung verstärkt. Sie sind so überzeugt von der eigenen Ernährungsweise und der Zuträglichkeit für ihre Gesundheit, dass sie sofort ein schlechtes Gewissen überkommt, nachdem ein vermeintlich ungesundes Lebensmittel oder eine ungesunde Mahlzeit zu sich genommen wurde. Das schlechte Gewissen entsteht aus der Angst, krank zu werden – und zeigt daher auch nicht selten Parallelen zur Hypochondrie. Es gibt es auch Hinweise darauf, dass Orthorexie ab einer gewissen Ausprägung von den Betroffenen als belastend bewertet wird und mit einem hohen Leidensdruck einhergeht.

WAS IST GESUNDE ERNÄHRUNG?

Aber nun zu der Frage, was eine gesunde Ernährung eigentlich ausmacht. Schließlich soll sie, wie der Name schon verrät, ja zur Gesundheit beitragen. Die perfekte Ernährung gibt es wohl ohnehin nicht. Dafür ist schon allein die Forschung im Ernährungsbereich zu schwierig, da man schlecht mit Placebos arbeiten kann. Ein Brokkoli sieht nun mal aus wie ein Brokkoli und lässt sich schlecht als Steak verkaufen. Doch trotzdem gibt es natürlich viele umfangreiche Studien, die den Einfluss von Ernährung auf die Gesundheit untersucht haben. Zum Beispiel dienen hier die sogenannten Bluezones als wichtige Grundlage. In diesen Regionen der Welt, am bekanntesten ist die japanische Insel Okinawa, leben die meisten über hundertjährigen Menschen und noch dazu findet man dort kaum die bekannten Zivilisationserkrankungen, die in der westlichen Welt die Haupttodesursachen darstellen. Auf Basis dieser und vieler weiterer Untersuchungen kann man inzwischen sagen, dass eine abwechslungsreiche pflanzenbasierte Ernährung (mindestens 90–95 Prozent pflanzlich) mit einem hohen Anteil an Obst, Gemüse, Vollkorngetreide, Nüssen und Samen wohl am nächsten an die optimale Ernährung herankommt. Doch was wäre Ernährung ohne Genuss?! Daher finden wir in den früher häufig genutzten Lebensmittelpyramiden immer in der Spitze selten zu verzehrende Lebensmittel wie Süßigkeiten und stark verarbeitete oder frittierte Produkte sowie Getränke wie Alkohol. Dass diese der Gesundheit nicht zuträglich sind, sollte inzwischen allseits bekannt sein. Doch das Stück Schokolade auf dem Sofa oder ein Glas Wein zum Abendessen trägt entscheidend zu Genuss und Wohlbefinden und damit zur psychischen Gesundheit bei. Das ist wohl der entscheidendste Unterschied zwischen gesunder Ernährung und Orthorexie.

FAZIT

Wenn du bei einem Kunden den Verdacht auf eine Orthorexia nervosa hast und eine ernste Gefahr für seine Gesundheit siehst, solltest du denjenigen offen ansprechen und ermutigen, sich den Rat eines Arztes oder Psychologen einzuholen. Besonderes Augenmerk sollte man auf betroffene Jugendliche richten, da hier der Moment des Übergangs zu einer Anorexia nervosa schnell verpasst werden kann. Hilfe findet man auch bei zertifizierten Ernährungsberatern, die zum Beispiel auf den Seiten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung aufgelistet sind.


NELE ENDNER
Die Ärztin arbeitet aktuell in der Abteilung für Sportmedizin der Universität Heidelberg. Nebenberuflich bietet sie als selbstständige Ernährungsberaterin mit dem Fokus auf pflanzenbasierte Ernährung Einzel- und Gruppenstunden sowie Vorträge zur gesundheitsbewussten Ernährung und Krankheitsprävention an.
www.gesundheit-endner.de


Foto: BillionPhotos.com – stock.adobe.com

 

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